Vulkanausbrüche, leopardenstreichelnde Femmes fatales, Außenaufnahmen in Schnee und Wüstensand - der 1914 uraufgeführte Monumentalstreifen Cabiria - Visione Storica bot eine solch spektakuläre Bildgewalt auf, dass die eigentliche 'storia' zur Nebensache geriet. Die Handlung des fast dreistündigen Films, der zur Zeit des Zweiten Punischen Krieges spielt, sei "nichts anderes als ein Vorwand für die Präsentation großer, malerischer, ohne finanzielle Begrenzung inszenierter Bilder" (220-221), schwärmt ein Kritiker. Ein anderer blendet die Handlung gedanklich aus, um in den erhabenen Filmszenen ein "Aufeinanderfolgen von Fresken Michelangelos" (222) zu erblicken.
Wie solche Bemerkungen nahelegen, waren der italienische Film des frühen 20. Jahrhunderts und die Sehgewohnheiten seines Publikums von Inszenierungen geprägt, die sich entlang ikonischer Einstellungen entfalteten, statt eine zeitlich-stringente Erzählung zu montieren. Nicht nur Inszenierungsformen aus Theater und Oper waren offenbar maßgeblich, um den Film, die einstige Jahrmarktattraktion, vor einem bildungsbürgerlichen Publikum als 'Siebte Kunst' zu etablieren, sondern auch die Bildprogramme der Malerei.
Der Fortführung der Bildtraditionen des 19. Jahrhunderts im italienischen Stummfilm widmet sich die nun publizierte Dissertation von Bruno Grimm. Filmemacher bedienten sich, wie die Studie deutlich zeigt, aus dem vollen Reservoir populärer Bildwelten des vorherigen Jahrhunderts. Romanillustrationen, Laterna-Magica-Folgen und Pressebilder wurden ebenso zitiert wie Historiengemälde. Damit schöpfte man aus dem kollektiven Bildgedächtnis des Publikums, das zur Aufschlüsselung des Gesehenen folglich kaum noch der erzählerischen Führung bedurfte.
Indes geht es Grimm um weit mehr als um das Aufdecken motivischer Anleihen aus etablierten Bildgattungen. Sein Fokus liegt auf einem filmischen Erzählen, das sich nicht über eine Continuity-Schnitttechnik konstituiert, sondern sich als diskontinuierliches Arrangieren einzelner Tableaus zeigt - und damit noch der Narrationslogik statischer Bilder verhaftet ist. Erzählt wurde nicht über mehrere Shots hinweg, sondern innerhalb einer Einstellung. Das frühe Filmbild war also, so ließe sich mit André Bazins einschlägiger Terminologie [1] ergänzen, "zentrifugal" orientiert wie ein Gemälde: Die Bildränder markierten nicht einfach nur eine verschiebbare ausschnitthafte Abdeckung (cache) eines Ganzen, sondern hielten, wie der Rahmen eines Gemäldes (cadre), das Geschehen vollständig in sich eingeschlossen.
Damit widmet sich Grimms Studie einem bislang allenfalls schlaglichtartig erfassten Modus filmischen Erzählens, das weder mit dem auf den amerikanischen Filmemacher D. W. Griffith zurückgehenden klassischen Erzählschema zu fassen ist noch unter Tom Gunnings "Cinema of Attractions" zu rubrizieren wäre. Im italienischen Stummfilm der Jahre zwischen 1908 und 1914, dessen Protagonisten sich nicht so sehr als "metteurs en scène" betätigten, sondern als "metteurs en image" [2], findet Grimm ein sinnfälliges Untersuchungsgebiet.
Seine Fragestellung untersucht der Autor an einer Reihe gut gewählter Schlüsselwerke der Filmgeschichte. Den Auftakt machen vier Fallstudien zu Kurzfilmen, deren Brüche in der Handlungslogik Grimm mit der Priorisierung des Tableaus erklären kann. Mit einschlägigen Filmen wie Georges Méliès' Le voyage dans la lune (1902), für den der Autor die Lektüre als eine "Folge von verlebendigten Illustrationen" (30) stark macht, umreißt Grimm den Problemkreis international, bevor er sich im Hauptteil auf die Tradition des italienischen Films konzentriert. Als Scharnier zur Analyse umfangreicherer Filmprojekte in Italien dient dem Autor L'assassinat du Duc de Guise von 1908. Selbst in diesem am Theater angesiedelten Film kann Grimm die Virulenz von Historiengemälden wie denen von Pierre-Charles Comte und Paul Delaroche aufzeigen (55-80).
Für L'inferno (1911) übertrug man, wie Grimm ausführt, Gustave Dorés Illustrationen von Dantes Göttlicher Komödie in Filmbilder (82-115). Historienstreifen wie Quo vadis? (1913) und die Verfilmungen von Edward Bulwer-Lyttons The last days of Pompei von 1908 und 1913 zeigen einmal mehr, dass Filmemacher dieselben vergangenen Welten zu evozieren suchten, wie die akademischen Maler, etwa Jean-Léon Gérôme oder Lawrence Alma-Tadema (137-161). Und so hat auch die Raumarchitektur der Filme mehr mit der Malerei gemein als mit der Bühne.
In allen Filmbeispielen kann Grimm die Verhaftung an den Illusionsraum statischer Bilder überzeugend nachweisen. Wobei er genuin bildliches Zitieren, wie es etwa in der Re-Inszenierung von Gerôme-Werken als Tableau vivants in Quo vadis? offenbar wird (133-137), gerne noch deutlicher hätte absetzen können von der Nutzung von Historiengemälden und archäologischen Illustrationen als Vorlagenwerke zur historisch plausiblen Ausstattung des Filmsets.
Nicht nur bedingt durch seinen Untersuchungsgegenstand, sondern auch aus methodischen Gründen verfolgt Grimm einen Ansatz, der gegenüber einem literaturwissenschaftlich-narratologischen Zugang zuletzt an Konjunktur gewonnen hat und die genuin bildliche Logik des Films akzentuiert. Ein aktueller Beitrag aus dieser filmwissenschaftlichen Richtung ist Fabienne Liptays Buch Telling Images. Studien zur Bildlichkeit des Films. [3]
Grimm rekonstruiert intermediale Übersetzungsvorgänge mit höchster philologischer Sorgfalt, was im Sinne einer transparenten Materialpräsentation überaus dankbar ist, einer zielstrebigen Argumentation jedoch bisweilen zuwiderläuft. Dennoch zeichnet sich seine Studie durch eine kenntnisreiche und sprachlich klare Darstellung aus, die sinnvoll abgerundet wird durch aufschlussreiche Exkurse (zu Paul Delaroche, 72-80, und zu Filmdiven, 200-205).
Besonders überzeugend gerät das letzte Kapitel zum eingangs erwähnten Leinwandspektakel Cabiria, das der als Maler ausgebildete Giovanni Pastrone inszenierte und für das der Dichterfürst Gabriele D'Annunzio die Zwischentitel lieferte. In seiner eingehenden Analyse des Filmwerks kann Grimm auch die Wende zu einer eigenständigeren Konstruktion des filmischen Raumes skizzieren. Denn bei aller Neigung zum (wiederum von Doré abgeleiteten) bildfolgenhaften Arrangement - in Cabiria wird das filmische Erzählen allmählich "zentripetal": Der von Pastrone erfundenen Carrello Cabiriano, der erste Kamerawagen der Filmgeschichte, befreit die Kamera von ihrem festen Standpunkt, erlaubt ihr erstmals, das Filmset zu durchfahren und damit dessen Raumtiefe und architektonische Verfasstheit erfahrbar zu machen: "[...] der Zuschauer [verlässt] den Platz vor dem Tableau vivant und bewegt sich in das Filmgeschehen hinein" (213).
Mit Tableaus im Film - Film als Tableau liegt eine aufschlussreiche Untersuchung zur spannungsvollen Beziehung des frühen Films zu Theater, Literatur und Bildmedien vor. Die allmählichen Autonomiebestrebungen des Mediums werden perspektivisch eröffnet. Gleichzeitig widersetzt sich die Studie einer teleologischen Argumentation, die den frühen Film als defizitäre Vorform einer genuin filmischen Sprache ansieht, die wiederum zumeist mit dem amerikanischen Continuity-System - Parallelmontage, Match-Cut, Schuss-Gegenschuss-Einstellungen - identifiziert wird. Somit liegt ein gelungenes Beispiel für kunsthistorische Forschung am Bewegtbild vor.
Anmerkungen:
[1] André Bazin: Malerei und Film (1975), in: Ders.: Was ist Film?, hg. v. Robert Fischer, Berlin 2015, 224-230.
[2] Karl Prümm: Von der Mise en scène zur Mise en images. Plädoyer für einen Perspektivenwechsel in der Filmtheorie und Filmanalyse, in: Thomas Koebner (Hg.): Bildtheorie und Film, München 2006, 15-35.
[3] Fabienne Liptay: Telling Images. Studien zur Bildlichkeit des Films, Zürich / Berlin 2016.
Bruno Grimm: Tableaus im Film - Film als Tableau. Der italienische Stummfilm und Bildtraditionen des 19. Jahrhunderts, München: Wilhelm Fink 2016, 255 S., ISBN 978-3-7705-5905-3, EUR 39,90
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