Die Phase des Spätsozialismus ist in den letzten Jahren Gegenstand einer erneuten, intensiven Auseinandersetzung geworden. [1] Galt es anfänglich, die Auflösung der Sowjetunion unter den Gesichtspunkten der Transformationsforschung zu analysieren, zeigen sich in den Geschichts- und Sozialwissenschaften aktuell neue theoretische Zugänge. Unter diskursanalytischen, bildwissenschaftlichen Gesichtspunkten sowie durch die Katastrophen-, und Umweltforschung erhält der Blick auf den Forschungsgegenstand neue perspektivische Ausrichtungen. [2] Weiterhin geht es darum, die Gründe des Scheiterns der sozialistischen Supermacht aus systemimmanenten Faktoren und anhand sicherheits- und außenpolitischer Gesichtspunkte zu analysieren.
Bezeichnend für die Aufarbeitung insbesondere des Spätsozialismus bleiben die oft erschwerten Bedingungen in den staatlichen Archiven der Russländischen Föderation. Diese Erfahrung hat auch Pekka Roisko gemacht, und das hat ihn zusätzlich in die Archive der Ukraine und Belarus geführt. Seiner Studie über die Zensur in der UdSSR, die als Dissertation an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz entstanden ist, hat das gut getan: erweitert der Autor seine Untersuchung doch um wichtige Aspekte, die Wechselwirkungen innerhalb und die Heterogenität der Sowjetunion gleichermaßen am Untersuchungsgegenstand aufzeigen. Ziel der Arbeit ist es, dem sich verändernden Einfluss der Hauptverwaltung der Angelegenheiten der Literatur und des Verlagswesens [3] (Glavlit) als Instrument zur Machtsicherung der KPdSU auf die Spur zu kommen. Diese Instanz entwickelte sich zu einem der wichtigsten Lenkmechanismen des politisch-ideologischen Diskurses, trug zur Sicherung der Stellung der Kommunistischen Partei wesentlich bei und überlebte das Verbot des einstigen Auftraggebers, der KPdSU, sogar um einige Wochen (345).
Mit Hilfe des Dekrets über die Presse erfolgte nach der Machtübernahme durch die Mitstreiter Lenins eine allumfassende Uniformierung der russischen Medienlandschaft. Der Abteilung für Militärzensur folgte die Einrichtung des monopolistisch agierenden Staatsverlages der RSFSR (Gosizdat) im Mai 1919. Die Medien hatten ihren Charakter als Teil der öffentlichen Kultur im marxistischen Sinne verloren und entwickelten sich zum Erziehungsgehilfen einer leninistischen Gesellschaft. Mögen die umfassenden Kontrollfunktionen der im Juni 1922 gegründeten Behörde Glavlit aus Gründen der Konsolidierung marxistisch-leninistischer Grundideen aus der Sicht der Machthaber noch rational nachvollziehbar sein, so entwickelte sich die Zensurbehörde über ihre machtinstitutionelle Konsolidierung zu einem Instrument der "totalen sowjetischen Informationskontrolle." (38) Ihre maximale Machtfülle entwickelte Glavlit aus Stalins Zentralisierungsbestrebungen heraus und wurde zum institutionellen Herrscher über alles Schriftliche - vom Abzeichen bis hin zur Porzellangravur. Obwohl 1936 eine formale Unterstellung der Behörde unter die Aufsicht des Rates der Volkskommissare stattfand, befand sich Glavlit de facto unter Kontrolle des Zentralkomitees (ZK) der Partei. Für die Zeit des Großen Vaterländischen Krieges, welche auch Roisko für Glavlit nur spärlich dokumentieren kann, bleibt weiterhin offen, welche Rolle einzelne Abteilungen von Glavlit im Wechselspiel mit der Militärzensur und dem am 24. Juni 1941 gegründeten Sowjetischen Informationsbüro (Sovinformbjuro) zur Zeit des Krieges spielten.
Die Nachkriegszeit erwies sich als "Lackmustest" für die Behörde und verdeutlichte gleichzeitig die Anpassungsfähigkeit, mit der sie während der chruščëvschen Veränderungen auf Rügen des ZK reagierte (42). Absichernd verstärkte die Institution die Bindung an einen dauerhaften Patron, nämlich die konservativen Parteivertreter innerhalb der KPdSU. Roisko analysiert das Zensursystem der Sowjetunion nicht allein über die Institution Glavlit, sondern bezieht die Faktoren "Gesellschaft" und "Mensch" ein. Glavlit, wie auch die kommunistische Partei, vertrauten auf eine enge Verzahnung von Restriktionen, detaillierten Verzeichnissen möglicher Veröffentlichungen (Perečen') und den Glauben der Sowjetbürger an eine gesellschaftliche Utopie - Selbstzensur war ein wirksamer Mechanismus bei den Medienschaffenden (44f.). Dabei konnte Glavlit davon ausgehen, mit einem ideologisch integren journalistischen Personal arbeiten zu können.
Mit welcher Detailfülle der Autor aufwarten kann, zeigt sich in der Betrachtung des Machtverlustes der Behörde im Spätsozialismus. Hatten die letzten Jahre des greisen Brežnevs [4] zu einem Machtzuwachs Glavlits als Stütze des Systems (92) geführt, kam es unter den eingeleiteten Andropovschen Neuerungen zu vermehrten Beanstandungen durch die Zensurbehörde. Im Fokus standen "Verleumdungen" gegen den Sowjetstaat sowie eine konsequente Kontrolle der Kulturpolitik (84). Das kurze Intermezzo Černenkos vermochte es nicht, weiter reichenden Einfluss zu entwickeln (86). Interessant erscheint zudem der Hinweis, dass die parteiinternen Machtkämpfe um die Position des Generalsekretärs, welche das sowjetische System lähmten, auch Glavlit trafen und bei der Behörde in eine Orientierungslosigkeit mündeten. Hatte Glavlit bis dahin eine nahezu uneingeschränkte Verfügungsgewalt über die ideologisch-politische Zensur, traten mit dem Machtantritt Gorbačëvs institutionelle Mitspieler (KGB; Sekretariate des ZK) verstärkt in Erscheinung.
Roisko definiert die vertuschende faktologische Kontrolle Glavlits über Daten der sowjetischen Wirtschaft als mitursächlich für die Fehlentwicklungen im Gefüge der UdSSR. Er skizziert minuziös den Machtverfall der obersten Zensurinstanz nach dem Bekanntwerden absichtlich falsch produzierter oder geheim gehaltener Daten. Glavlit hatte sich bis zur Mitte der 1980er-Jahre zu einem unionsweiten, unüberschaubaren Verwaltungsgiganten überbürokratisiert - autarke Entscheidungen einzelner Abteilungen führten zu zusätzlichen "Fehlern" in der "Zensurarbeit". Gorbačëv machte der ungelenken Behördenarbeit ein Ende und vollzog eine Reform von oben. Die Partei stellte das System der Zensur dennoch nicht vollständig in Frage und forderte für Schlüsselinformationen, wie Staats- und Militärgeheimnisse, eine weiterhin rigide Informationspolitik. Die angedachte Politik einer größeren Offenheit im Sinne von glasnost' war ein keineswegs stets einliniger und eindeutiger Prozess und so kam es Roisko zufolge in der Berichterstattung über das Reaktorunglück in Tschernobyl zu einem "Rückfall in typisch sowjetische Verhaltensmuster" (251). Die Zensur der Nachrichten über die Katastrophe in Tschernobyl wurde einer Sonderkommission übertragen (254) und Glavlit zu einem Handlanger degradiert.
In Verbindung mit dem Konflikt in Afghanistan streicht der Autor den Machtverlust von Glavlit heraus. Hier wird deutlich, dass die Behörde mehr reagierte, als agierte - militärische Entscheidungsträger wurden zu Impulsgebern für mediale Veränderungen (265f.). Eine Betrachtung der Zensureinwirkungen zum Erdbeben in Armenien wäre wünschenswert gewesen - es bleibt zu vermuten, dass das Archivmaterial keine ausreichende Analysebasis ergab.
Roisko leistet einen wichtigen Beitrag zum Verständnis innersowjetischer Wirkungsmechanismen. Er verdeutlicht die gegenseitigen Wechselwirkungen zwischen Glavlit und der KPdSU in der Steuerung der Öffentlichkeit zum Erhalt des Systems. Durch die akribische Auswertung von Aktenbeständen und zeitgenössischen Veröffentlichungen entsteht ein umfassender Einblick in den Einfluss der Zensurarbeit auf Themen wie Versorgung, Umwelt, das militärische Heldennarrativ oder den Umgang mit Dissidenten. Zusätzlich ist es dem Autor gelungen, unmittelbar beteiligte Personen wie Nikolaj Efimov oder Valerij Kuznecov durch Interviews zu Wort kommen zu lassen (14). Glavlit hatte sich selbst überbürokratisiert, und spiegelte die Schwäche der KPdSU sowie ihre schwindende Macht wider.
Der Charakter einer Dissertation bleibt in der stark verästelten Gliederungsstruktur des Buches erhalten; es macht den Eindruck, als sollte jedes noch so kleine Detail verarbeitet werden. Worin Roisko beispielsweise die Notwendigkeit eines Kapitels zur Störung des Auslandsradios sah, kann wohl nur durch das Streben nach Vollständigkeit erklärt werden - einen wirklichen Bezug zu Glavlit gibt es hier nicht. Schließlich bleibt festzuhalten, dass genau dieser Detailreichtum die wohl einzige Möglichkeit darstellt, der Arbeit von Glavlit unter den vier Generalsekretären der 1980er-Jahre auf die Spur zu kommen und den Wandel der Behörde vom allmächtigen "Vollstrecker" (46) zum Verwalter des eigenen Untergangs nachzuzeichnen. Insgesamt bietet der vorliegende Band eine enorm wichtige, da bis heute vernachlässigte Perspektive auf den Spätsozialismus. Diese arbeitsreiche Grundlagenforschung mündete in eine gelungene und gut lesbare Studie über die sich wandelnde Effizienz der sowjetischen Zensurbehörde Glavlit - sie erschließt ein weiteres Puzzleteil im Verständnis von glasnost' und perestrojka.
Anmerkungen:
[1] Jan C. Behrends (Hg.): War, violence, and the military during late socialism and transition (= Nationalities Papers. The Journal of Nationalism and Ethnicity 43/5), Philadelphia 2015; Melanie Arndt: Politik und Gesellschaft nach Tschernobyl. (Ost-)Europäische Perspektiven (= Kommunismus und Gesellschaft 1), Berlin 2016.
[2] Beispielhaft der Workshop "Neue Forschung zur Geschichte der Perestroika" im Jahr 2015 des Imre Kertész Kolleg und des Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte der Universität Jena. Vgl. http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6355
[3] Glavnoe upravlenie po delam literatury i izdatel'stv
[4] Vgl. Vladislav M. Zubok: A failed empire: the Soviet Union in the Cold war from Stalin to Gorbachev, Chapel Hill 2007, 257.
Pekka Roisko: Gralshüter eines untergehenden Systems. Zensur der Massenmedien in der UdSSR 1981-1991 (= Medien in Geschichte und Gegenwart; Bd. 31), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2015, 413 S., ISBN 978-3-412-22501-8, EUR 49,90
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