Eine Zusammenstellung der inschriftlich und literarisch nachgewiesenen Fragmente solonischer Gesetze hatte erstmals Carolus Sondhaus im Jahre 1909 vorgelegt. [1] Auf dieser Grundlage hatte Eberhard Ruschenbusch eine neue Edition der Σόλωνος νόμοι mit einer umfangreichen Text- und Überlieferungsgeschichte erarbeitet, die 1966 erschien und sich trotz einer 1968 publizierten Sammlung aller solonischen Testimonia, die auch die Gesetze umfassten, als maßgebliche Ausgabe der solonischen Gesetze etabliert hat. [2] Aus dem Nachlass von Eberhard Ruschenbusch war 2010 eine leicht erweiterte Ausgabe, allerdings nur der als echt anerkannten 93 Fragmente mit Übersetzung und Kommentar erschienen. Delfim Leão und Peter Rhodes haben nun eine neue Edition mit englischer Übersetzung und kurzen Kommentaren vorgelegt, die die Fragmentsammlung von Ruschenbusch einem englischsprachigen Publikum erschließt.
Die neue Edition orientiert sich ganz an der Publikation von Ruschenbusch, behält die Zählung weitgehend bei, hat aber einige der als unecht angesehenen Fragmente unter die echten eingereiht und weitere Fragmente mit entsprechender Kennzeichnung hinzugefügt. Auch in den Kommentaren fokussieren die Autoren auf die von Ruschenbusch vorgelegten Interpretationen und nehmen kritisch dazu Stellung.
In einer knappen Einleitung geben Leão und Rhodes einen konzisen Überblick über den Umfang der Kodifikation, die Schriftträger, die Publikation im öffentlichen Raum und die Bedeutung der schriftlichen Fixierung. Unentschieden bleiben Leão und Rhodes in der Frage, ob Drakon außer dem Gesetz über die Tötung weitere Gesetze erlassen hat (3, 12), sind aber zuversichtlicher als Michael Gagarin, den Anlass für dessen Gesetzgebung in dem Tyrannisversuch Kylons zu sehen. Leão und Rhodes schreiben der Überlieferung eine hohe Zuverlässigkeit zu, weil man noch im 4. Jahrhundert zwischen den alten Gesetzen Solons und späteren Gesetzen unterscheiden konnte, obwohl die axones nach der Revision der Gesetze 403-399 nur noch antiquarische Bedeutung hatten.
So konzise und gut informiert die Einführung in den historischen Kontext und die Überlieferungssituation gehalten ist, so präzise und hilfreich sind auch die Kommentare, die häufig mehrere Fragmente gemeinsam erläutern. Dabei wird in geschickter Auswahl auf weitere Quellen hingewiesen sowie auf die wichtigsten strittigen Aspekte des Gesetzes und die Forschungskontroversen, wobei naturgemäß die englischsprachige Literatur stärker berücksichtigt ist. Insgesamt haben Leão und Rhodes in ihrer kritischen Stellungnahme zu den Interpretationen von Ruschenbusch und mit den Hinweisen zu neueren Forschungsmeinungen eine solide Neuedition der solonischen Gesetze vorgelegt, die sich im eigenen Urteil zurückhaltend gibt und damit eine gute Basis für eine weitere Beschäftigung mit den Gesetzen Solons bietet.
Abschließend seien dennoch einige kritische Einwände aufgeführt: Die Unterscheidung in Drakons Gesetz über die Tötung von vorsätzlicher und nicht vorsätzlicher Tat mit "willing and unwilling" gleichzusetzen (11-13), ist zumindest missverständlich. Eine willentliche Tötung muss noch keine vorsätzliche Tat sein und nur letztere ist es, die im archaischen Athen lebenslange Verbannung zur Folge hat. Leão und Rhodes folgen Ruschenbusch darin, dass in der Zeit nach Drakons Gesetz "willing homicide" auf den Areopag übertragen worden sei und nehmen dies als Beleg dafür, dass ältere Gesetze abgeändert werden konnten (13f., 21f.). Fasst man jedoch Drakons Gesetz als ein solches auf, das die Blutrache regelte, ist durchaus plausibel, dass Drakons Gesetz mit der nicht vorsätzlichen Tat begann, wofür auch die umfangreichen Regelungen zur "Aussöhnung" (aidesis) sprechen. Solon hätte dann als erster für die vorsätzliche Tat überhaupt ein formelles Rechtsverfahren eingerichtet und dafür den Areopag als Instanz bestimmt, der vorher bereits in Fällen von Tyrannis und anderen Angriffen gegen die politische Ordnung entschieden hat. Zu Recht gehen Leão und Rhodes gegen Ruschenbusch davon aus, dass die Regelungen zur aidesis nur bei nicht vorsätzlicher Tötung Anwendung finden sollten. Die Flucht aus Attika auf asylgewährenden Wegen zu gestatten (Fragment 6) ist allerdings entgegen der Übersetzung von Leão und Rhodes auf die nicht vorsätzliche Tötung zu beziehen, nicht auf "willing homicide" (24).
Bei der Einordnung der Fragmente 26-28 (Gesetze gegen Vergewaltigung und Ehebruch) unter die Rubrik "Moral offences" und der Bestattungsgesetze (Fragment 72) unter die Rubrik "Sumptuary Laws" hätten sich Leão und Rhodes stärker von den Bezeichnungen Ruschenbuschs lösen sollen. Denn bei ersteren geht es vorrangig um die rechtmäßigen Erben im Haus und bei letzteren um mehr als um die Beschränkung des Aufwands. Die milde Strafe bei der Vergewaltigung ist wohl auch darauf zurückzuführen, dass sich das Gesetz in archaischer Zeit auf den Brautraub bezog, dem in Gesellschaften mit arrangierten Heiraten eine Ventilfunktion im Konfliktfall zukam. In der Deutung des umstrittenen "Stasisgesetzes" bleiben Leão und Rhodes sehr defensiv, lehnen neuere Thesen zum Gesetz ab und kehren zu der Deutung Plutarchs zurück, dass Solon mit diesem Gesetz einer Apathie der Bürger entgegenwirken wollte, was kaum überzeugen kann. Dies gilt auch für die Interpretation des Gesetzes, das Väter verpflichtet, ihre Söhne in einer "techne" zu unterweisen, wollten sie nicht ihre Unterstützung im Alter verlieren. Für die solonische Zeit sollte dies stärker auf die Landwirtschaft bezogen werden, so dass das Gesetz kaum dazu gedient haben wird, "to encourage trade and crafts" (96). Bei der Deutung des Gesetzes über die Aufnahme von Personen, die nach Attika übersiedelten, und von Exilierten (Fragment 75) verwundert, warum Athen solche Personen ins Bürgerrecht aufgenommen haben sollte, wenn Solon gleichzeitig die wegen Tyrannisversuchs oder vorsätzlicher Tötung auf ewig Verbannten von der Amnestie ausnahm. Zu Fragment 94 übernehmen Leão und Rhodes das Missverständnis von Ruschenbusch und anderen, Andokides habe in § 95-98 der Rede "Über die Mysterien" den Antrag des Demophantos auf ein Gesetz gegen die Tyrannis und einen Verfassungsumsturz als solonisches Gesetz bezeichnet. Tatsächlich ist nur die Formulierung "katharós tás cheíras éstai" in § 95 als Zitat aus einem solonischen Gesetz zu verstehen, so dass die Quelle nicht als Beleg dafür gewertet werden kann, Solon seien in späterer Zeit Gesetze fälschlicherweise zugeschrieben worden.
Doch die angesprochenen Punkte betreffen vielfach heftig umstrittene Deutungen der solonischen Gesetze, deren Diskussion sicherlich noch weiter geführt wird. Ungeachtet dessen haben Leão und Rhodes eine solide Grundlage für eine weitere Auseinandersetzung mit den solonischen Gesetzen und Reformen und dem frühgriechischen Recht insgesamt gelegt.
Anmerkungen:
[1] Carolus Sondhaus: De Solonis legibus. Diss. Jena 1909.
[2] Eberhard Ruschenbusch: Σόλωνοϛ νόμοι. Die Fragmente des solonischen Gesetzeswerkes mit einer Text- und Überlieferungsgeschichte, Wiesbaden 1966 (Ndr. Stuttgart 1983); ders.: Solon: Das Gesetzeswerk - Fragmente. Übersetzung und Kommentar, Stuttgart 2010. Antonio Martina: Solon. Testimonia veterum (Lyricorum Graecorum quae exstant; 4), Rom 1968.
Delfim F. Leão / P. J. Rhodes: The Laws of Solon. A New edition with Introduction, Translation and Commentary, London / New York: I.B.Tauris 2015, XIII + 210 S., ISBN 978-1-78076-853-3, GBP 70,00
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