Ausgerechnet die Staatspartei der DDR ist in den Jahren seit 1990 nur auf selektive Aufmerksamkeit gestoßen. Seit einigen Jahren widmet sich die Forschung nunmehr dem Wandel und dem Niedergang der SED. Erfreulicherweise rücken dabei auch die mittleren und unteren Leitungsebenen der Partei in den Fokus wissenschaftlicher Analysen. Tilman Pohlmann erweitert mit seiner Studie bisherige Fragestellungen, indem er nicht nur die lokale politische Praxis am Beispiel der 1. Sekretäre der sächsischen Kreisleitungen der SED in der Ära Ulbricht (1946-1971) untersucht. Es ist ihm auch gelungen, den sozial- und erfahrungsgeschichtlichen Kontext kommunistischer Herrschaftspraxis auf lokaler Ebene herauszuarbeiten.
Pohlmann fragt auf drei Ebenen nach den innerparteilichen Ursachen für die politische Stabilität der SED-Herrschaft in der Ulbricht-Ära. Er betrachtet zunächst die Phase des organisationspolitischen Aufbaus und Konsolidierung der Kreisleitungen in Sachsen in der Amtszeit Ulbrichts und zeigt anhand der Leitungsprinzipien, wie die lokale politische Herrschaftspraxis strukturell organisiert und modifiziert wurde. Auf einer zweiten Ebene wird das Sozialprofil der sächsischen 1. Kreissekretäre untersucht, um auf diese Weise Strukturanalyse und soziale sowie politische Handlungspraxis miteinander zu verbinden. Schließlich geht es in einem dritten Schwerpunkt um die generationelle Verortung der sächsischen Funktionäre an der Spitze der Kreisleitungen in Form von chronologisch angelegten Kollektivbiografien. Das Forschungsinteresse Pohlmanns richtet sich auf diesen drei Ebenen hauptsächlich darauf, einen Zusammenhang zwischen den politischen und sozialen Anforderungen der SED-Führung an die regionalen Führungskader im Sinne dauerhafter Machtsicherung und den soziokulturellen und generationellen Profilen der 1. SED-Kreissekretäre herauszuarbeiten.
Alles in allem ist es Pohlmann gelungen, auf die von ihm aufgeworfenen Fragen überzeugende Antworten zu finden. Er sieht in den soziokulturellen Gemeinsamkeiten der Kreisfunktionäre entscheidende Ursachen für die politische Stabilität der Parteiherrschaft auf der lokalen Ebene. Besonders hebt er die soziale Herkunft aus dem Arbeitermilieu und die starken familiären politischen Vorprägungen hervor. Auch die regionale Herkunft der Spitzenkader im Kreis habe eine wichtige Rolle für die Legitimation örtlicher Funktionäre gespielt. So waren die zwischen 1946 und 1971 amtierenden 1. Kreissekretäre überwiegend gebürtige Sachsen. In vergleichbarer Weise verweist Pohlmann auf Gemeinsamkeiten in der Schul- und Berufsausbildung. Die meisten 1. SED-Kreissekretäre in Sachsen hatten einen Schul- und Ausbildungsweg absolviert, der ihrer Herkunft aus dem traditionellen Arbeitermilieu entsprach. Insofern beruhte ihr Aufstieg im sächsischen Parteiapparat nicht auf formaler Bildung, sondern resultierte aus politischer Prägung und politischer Zuverlässigkeit. Das Verdienst Pohlmanns besteht darin, diese Rekrutierungsmechanismen nicht wie so oft nur zu behaupten, sondern auf einer soliden Grundlage der von ihm erhobenen kollektivbiografischen Daten nachzuweisen.
Ein differenziertes Bild ergibt sich für Pohlmann aus generationsgeschichtlicher Perspektive. Hier arbeitet er wesentliche Unterschiede zwischen vier "politischen Generationen" heraus, die während der Ulbricht-Ära an der Spitze der SED-Kreisleitungen standen. So seien die erste und zweite Generation der Kreisfunktionäre (Jahrgänge bis 1916), also die zwei Generationen der Gründungsphase zwischen 1945 und 1953, stark von ihrer politischen Einbindung in kommunistische bzw. sozialdemokratische Organisationen aus der Zeit vor 1933 geprägt gewesen. Dies habe dazu geführt, dass das aus dieser Zeit stammende Freund-Feind-Denken sowie ein ausgeprägtes Bewusstsein für Hierarchien auch die politische Praxis der Kreisfunktionäre nach 1945 bestimmte. Hinzu seien die Erfahrungen von Widerstand, politischer Verfolgung und Verhaftung zwischen 1933 und 1945 gekommen, die für die Gründergenerationen nach 1945 nicht nur identitäts- sondern auch legitimitätsstiftend wirkten.
Die beiden nachfolgenden "politischen Generationen" (Jahrgänge bis 1932) hätten dagegen durch ihre Einbindung in die organisationskulturelle Lebenswelt des NS-Systems nach 1945 einen Wandlungs- und Anpassungsprozess durchlaufen, der allerdings recht schnell und unkompliziert in die Staatspartei SED führte. In dieser Hinsicht kann Pohlmann anhand seiner kollektivbiografischen Erhebungen die bereits früher formulierte Auffassung bestätigen, wonach die im Nationalsozialismus sozialisierten Generationen der SED-Funktionäre an ihre gewohnten Verhaltensmuster und sozialen Prägungen anknüpfen konnten, indem nämlich auch in der SED Unterordnung, Konformität und Gehorsam erneut zu jenen sozialen und politischen Normen zählten, die schon in NS-Organisationen gelebt worden waren.
Die generationsgeschichtlichen Unterschiede wirkten sich Pohlmann zufolge keineswegs negativ auf die politische Stabilität der lokalen Herrschaftsapparate aus. Denn die im Nationalsozialismus sozialisierten "politischen Generationen" der 1. SED-Kreisfunktionäre hätten im Laufe ihrer Parteikarriere ihre politische Zuverlässigkeit und Standhaftigkeit unter Beweis gestellt sowie die erforderliche politische Qualifikation an der Parteihochschule des ZK der SED erworben. Insofern habe die verstärkte Integration jüngerer Funktionäre in die Kreisleitungen zwischen 1958 und 1963 auch nicht zu einer Erosion der politischen Stabilität örtlicher Herrschaftsapparate geführt. Im Gegenteil, der Autor schätzt den generationellen Umbau an der Spitze der sächsischen Kreisleitungen in der letzten Phase der Ulbricht-Ära als einen bewusst gesteuerten Prozess ein, der zu einer außerordentlichen Stabilität der regionalen Parteiherrschaft geführt habe.
Generell ist zu fragen, ob sämtliche Strukturveränderungen, insbesondere die Bildung von Büros für Industrie und Bauwesen in den 1960er-Jahren, ausschließlich machtpolitischen Interessen der Parteispitze folgten. Dienten die strukturellen Wandlungen der Parteiherrschaft nicht auch dazu, um sachkompetente Lösungen für Probleme anzustreben, die mit den herkömmlichen Herrschaftsmethoden eben nicht mehr bewältigt werden konnten? Die Führungsgremien der Partei öffneten sich in diesen Jahren ja gerade für Wissenschaftler und Betriebsdirektoren, deren Expertise im politischen Entscheidungsprozess erwünscht war. Fachkompetente Seiteneinsteiger und jüngere Funktionäre mit akademischem Hintergrund ließen sich von der Einsicht leiten, dass sich eine komplizierter werdende Gesellschaft nicht allein mit ideologischen Appellen und politischen Direktiven steuern ließ, sondern einer weithin versachlichten, qualifizierten Leitungstätigkeit bedurfte. Insofern gingen die Strukturreformen der 1960er-Jahre eben doch über die tradierten Methoden diktatorischer Machtsicherung hinaus.
Tilman Pohlmann hat eine beachtenswerte Studie über die regionale Herrschaftspraxis der SED vorgelegt, die Generationsschichtung und Organisationsentwicklung sinnvoll miteinander in Beziehung setzt. Er kann am Beispiel bestimmter sozialer Milieus und generationeller Profile zeigen, wie die von der Parteispitze initiierte Rekrutierung regionaler Führungskader während der Ulbricht-Ära zur Stabilität der SED-Parteiherrschaft beitrug. Zu Recht wird von ihm abschließend die Frage gestellt, ob und in welchem Ausmaß die organisationspolitische und personelle Erstarrung nach dem Amtsantritt Honeckers auf der Ebene der Kreisorganisationen den Niedergang und das Ende der SED-Herrschaft beschleunigt hat.
Tilmann Pohlmann: Die Ersten im Kreis. Herrschaftsstrukturen und Generationen in der SED (1946-1971), Göttingen: V&R unipress 2017, 261 S., ISBN 978-3-8471-0660-9, EUR 40,00
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