sehepunkte 17 (2017), Nr. 10

Andreas J. Beck (Hg.): Melanchthon und die Reformierte Tradition

Der Band versammelt Beiträge einer internationalen Tagung anlässlich des 450. Todesjahres Philipp Melanchthons im Jahr 2010. Das Hauptanliegen ist es, den bisher nur wenig erforschten Einfluss des Wittenberger Reformators auf die reformierte Theologie und Frömmigkeit ins Bewusstsein zu rufen (Beck, 7f.). Der Blick auf die Rezeption des lutherischen Theologen durch die reformierte Kirche und Theologie nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz, in England, Ungarn, Frankreich sowie in den Niederlanden eröffnet das Bild von Melanchthon als "Praeceptor Europae".

Diese Sicht lässt im Jahr des oft "Luther-dominierten" Reformationsjubiläums die eigenständige Bedeutung von Melanchthons Werk als Reformator deutlicher vor Augen treten. Sie trägt so auch zur Korrektur einer teilweise herrschenden Negativwahrnehmung seiner Person und Theologie (Frank, 12) bei, wobei diese auch in der reformierten Traditionslinie ambivalent eingeschätzt werden. Exemplarisch sei auf das Fazit Mühlings zur Einschätzung über "Melanchthon und die Zürcher Theologen" verwiesen: "Zum einen galt Melanchthon den Zürcher wie Genfer Theologen als überragende theologische Kapazität von europäischem Rang. [...] Zum andern galt der Wittenberger [...] jedoch als persönlich wankelmütig und unzuverlässig." (28)

Methodisch und inhaltlich vereint der Sammelband sehr unterschiedliche Zugriffe auf die Thematik. Größere und für einen ersten Einblick leichter zugängliche Zusammenhänge thematisieren die Beiträge von Henk van den Belt, Martin H. Jung und Andreas J. Beck:

Der Groninger Professor für Reformierte Theologie van den Belt geht in seiner Untersuchung über "Word and Spirit in Melanchthon's Loci Communes" (63-75) von zwei Voraussetzungen aus: Zum einen von der gängigen Annahme, dass es einen Einfluss Melanchthons auf die reformierte Theologie gebe, zum anderen von der im Gefolge der Reformation zunehmenden Lehrdifferenz zwischen Lutheranern und Reformierten bezüglich des Verhältnisses von äußerem Wort Gottes und innerlichem Wirken des Heiligen Geistes. Zur Klärung der Positionierung Melanchthons in dieser Streitsache analysiert van den Belt die verschiedenen Auflagen der Loci. Es gelingt ihm damit zu zeigen, dass Melanchthon zunächst das Wirken des Heiligen Geistes am Herzen des Menschen betont, später aber - auch in Abgrenzung von den "Schwärmen" - den Fokus stärker auf das externe Wort richtet. Dieser Wandel sei auch als Basis der Entwicklung der Prädestinations- und Willenslehre denkbar, für die van den Belt den Synergismusvorwurf zurückweist. Zusammenfassend hält er fest: "If it is typically Lutheran to see the word as a necessary condition for the work of the Spirit, and typically Reformed to see the work of the Spirit as a necessary condition for the effect of the word, then Melanchthon develops from a more Reformed to a more Lutheran emphasis on this particular point." (75)

Dass sich wirkungsgeschichtlich ein Einfluss Melanchthons auch auf die reformierte Frömmigkeitspraxis feststellen lässt, zeigt der Beitrag des Historischen Theologen Jung (89-106): Melanchthon habe zum einen durch Katechismen, Gedichte, Spruch- und Gebetsbücher, zum anderen durch seine Schüler und insbesondere durch den intensiven Kontakt zu nicht-deutschsprachigen Studierenden, für die er sonntags Schriftauslegung und Glaubensunterweisung abhielt, prägenden Einfluss auf die reformierte Frömmigkeit gewonnen. Dies führt Jung anhand der Untersuchung frömmigkeitsrelevanter Themen des im Wesentlichen vom Melanchthon-Schüler Zacharius Ursinus verfassten Heidelberger Katechismus vor Augen: Besonders die Betonung des Gebets als Kern christlicher Frömmigkeit, des Trostes als eigentlichem Ziel der Theologie und der regelmäßigen Bibellektüre als geistlicher Stärkung zeigten, dass Melanchthon auch der Titel des "Praeceptor pietatis" (106) gebühre.

Als Korrektur an einem Melanchthonbild, das ihn als "Verderber" lutherischer Theologie und "Wegbereiter der protestantischen Scholastik" (108) (ver-)zeichnet, lässt sich der Beitrag Andreas J. Becks "Melanchthon und die reformierte Scholastik" (107-128) verstehen. Er setzt auf einer grundlegenden Ebene an: Wollte man Melanchthon als "Wegbereiter" verstehen, müsse vorausgesetzt werden, "dass die Reformation einen Bruch mit der Scholastik bedeutet" (109) habe. Überzeugend legt Beck dar, dass sich entgegen dieser Annahme nicht nur bei Melanchthon, sondern auch bei Luther und Calvin "durchaus scholastische [...] Züge [...]" (113) in der Theologie zeigten. Anzunehmen sei, "dass die Scholastik in gewisser Hinsicht generell im universitären Betrieb von ca. 1200 bis ca. 1800 zu verorten wäre" und der "entscheidende Bruch [...] erst mit dem Übergang zu den nationalen Universitäten nach dem Ende des 18. Jahrhunderts gegeben" (ebd.) sei. Damit sei die Bezeichnung Melanchthons als "Wegbereiter der reformierten Scholastik" zwar unsachgemäß, dennoch dürfe "sein Einfluss auf bedeutende Vertreter der reformierten Scholastik nicht unterschätzt werden." (122) Dies zeige sich zum einen an der breiten Übernahme der Loci-Methode für Lehrbücher, zum anderen an dem Einfluss auf die Theologie der Heidelberger Universität, an der es sogar zur Einrichtung einer Loci-Communes-Professur kam.

Andere Beiträge im Sammelband fokussieren eher spezielle Themenstellungen oder Melanchthons Beziehungen zu einzelnen Personen und Orten: Dies gilt für die anhand der Danielbuch-Auslegungen durchgeführte Untersuchung der Frage, inwiefern sich Melanchthon als "Apokalyptiker" verstehen lässt (van den Berg, 31-45), für die Analyse der Divergenzen in der Willenslehre der verschiedenen Auflagen von Melanchthons Loci als Beitrag zur Behebung eines Desiderats niederländischer Forschungsliteratur von Vos (47-62), für die Auseinandersetzung mit der Homiletik des jungen Melanchthons von de Groot (77-88), für Miltons Beschreibung des "subterranean [...] influence" (138) auf den englischen Protestantismus zwischen 1560 und 1660 (129-138), für Szabós historische Rekonstruktion zu "Melanchthon und die Schule in Sárospatak" (139-147), für Strickers Nachweis der Nichtnachweisbarkeit einer signifikanten Rezeption Melanchthons durch Moïse Amyraut (149-164), für die Untersuchung des Niederschlags melanchthonischen Gedankenguts in den Institutiones theologiae practicae des reformierten Pietisten Simon Oomius von van der Pol (165-174), die zeigt, dass Melanchthon dem niederländischen reformierten Pietismus im 17. Jahrhundert noch anders als dem gegenwärtigen als ein "significant spiritual leader" (174) galt, und schließlich auch für die Vorstellung und Auswertung der verschiedenen reformiert-theologischen Positionen anlässlich des Augustana-Jubiläums 1830 durch Hund (175-196).

Der Sammelband bietet einen innovativen und breit gefächerten Einblick in das Thema "Melanchthon und die Reformierte Tradition". Der verhältnismäßig große Abstand zwischen Tagung und Veröffentlichung zeitigt zwar notwendigerweise die Konsequenz, dass neuere Forschungsbeiträge zur Thematik nicht berücksichtigt werden konnten. Nichtsdestotrotz tragen die Beiträge zur Behebung eines historischen und theologischen Forschungsdesiderats und zu einem angemesseneren Verständnis von Person, Werk und Wirkung Melanchthons bei. Bisweilen bleibt jedoch die Einzeichnung einzelner, zum Teil sehr detailverhafteter Untersuchungen in den Horizont des übergreifenden Themas den Rezipienten überlassen.

Rezension über:

Andreas J. Beck (Hg.): Melanchthon und die Reformierte Tradition (= Refo500 Academic Studies; Bd. 6), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016, 250 S., ISBN 978-3-525-55031-1, EUR 85,00

Rezension von:
Sabine Schmidtke
Ökumenisches Institut, Heidelberg
Empfohlene Zitierweise:
Sabine Schmidtke: Rezension von: Andreas J. Beck (Hg.): Melanchthon und die Reformierte Tradition, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 10 [15.10.2017], URL: https://www.sehepunkte.de/2017/10/29787.html


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