Nach dem "Wilhelm von Humboldt" von 2011 legt Lothar Gall mit "Hardenberg" (1750 - 1822) die zweite Biographie zu einem der maßgeblichen preußischen Staatsmänner der Reformzeit der Jahre um 1800 vor. Nun wurden zu Hardenberg in den vergangenen zwanzig Jahren einige Arbeiten veröffentlicht, sei es Thomas Stamm-Kuhlmanns Edition der autobiographischen Aufzeichnungen, die Biographie von Ingo Hermann oder einzelne Spezialstudien und Sammelbände. [1] Mit einer "wissenschaftlichen", auf umfassender Sichtung der Forschungsliteratur wie auch (unedierter) Quellen basierenden Biographie hat man es in diesem Fall allerdings nicht zu tun. Lothar Gall wendet sich mit dem bei Piper erschienenen Buch nicht an die Fachkollegenschaft, sondern an ein historisch interessiertes Publikum, das ein Portrait des bekannten Staatsmannes erhalten möchte, ohne dabei allzu detailliert in die historische Forschung zu "defensiver Modernisierung", Reformgesetzgebung und Diplomatie der napoleonischen Ära einzutauchen. Insofern ist das Buch nach Anspruch und Umfang nicht vergleichbar mit den voluminösen Biographien Heinz Duchardts zum Partner Hardenbergs, dem Freiherrn vom Stein, oder Wolfram Siemanns zu dessen Gegenspieler, Metternich, und das ist auch nicht der Anspruch dieser Publikation. [2]
Gall folgt in seiner Darstellung dem späteren Staatskanzler auf seinem Weg von den eher bescheidenen Anfängen in Hannover und Braunschweig über die Statthalterschaft im preußischen Ansbach-Bayreuth bis in die Zentrale der preußischen Politik, wo immer die nun gerade zu lokalisieren war, in Berlin, Königsberg, Paris oder Wien. Nehmen im ersten Viertel des Buches die privaten Verhältnisse Hardenbergs noch mehr Raum ein, seine Frauengeschichten und sein verschwenderischer Lebensstil, so tritt dieser Aspekt in der Folge eher zurück hinter der Aktivität des Staatsmannes in der inneren Verwaltung wie in der Außenpolitik. In seiner Bewertung der Leistungen Hardenbergs für Preußen folgt Gall im Wesentlichen der Linie der inzwischen eher positiv urteilenden Forschung: Hardenberg als der Etatist, der Reformer von oben, der, im Gegensatz zu Stein, wendiger und behutsamer zu Werke ging und für den die Handlungsfähigkeit des bürokratischen Staates Vorrang hatte vor einer allzu schnellen Beteiligung gesellschaftlicher Gruppen oder Stände an der Staatsverwaltung.
Das alles wird flüssig und gut lesbar geschildert; dennoch ist man mit dem Buch, auch ohne große wissenschaftliche Ansprüche zu erheben, unzufrieden. Das Problem dieser Darstellung besteht nicht in der relativ konventionellen Herangehensweise, die ohne forschenden Anspruch und Aufwand weniger neu deuten oder erklären als nüchtern beschreiben möchte. Es besteht vielmehr im nahezu durchgängigen Fehlen von für das Verständnis der Person und ihres Handelns notwendigen Hintergrund- bzw. Kontextinformationen. Man sollte erwarten, dass in einem Werk über einen "Reformer" das zu Reformierende, das "alte" Preußen, überhaupt einmal prägnant skizziert würde, doch das ist nicht der Fall. Territoriale Geschichte und Gestalt (eine Karte enthält das Buch leider nicht), "Reich" und reichspolitische Bedingungen, innere Verfassung mit "absolutem" Monarchen, Kabinett, Generaldirektorium, Domänenkammern, Militärwesen und Justiz werden an keiner Stelle einmal bündig dargestellt, mit der Folge, dass dem historisch interessierten Laien - dem eigentlichen Zielpublikum - das Objekt der Reformbemühungen letztlich unbekannt bleibt. Auch die großen Ereignisse der Epoche, die doch für das Verständnis des Staatskanzlers unabdingbar sind, finden kaum eine Erwähnung: Die Revolution von 1789 mit dem Ende der feudalen Gesellschaft jenseits des Rheins, der Aufstieg und die Ziele Napoleons, die vorbildgebende Umgestaltung Frankreichs, seiner Verwaltung, seiner Verfassung, seines Militärs werden letztlich als bekannt vorausgesetzt. Hardenbergs Handeln bleibt auf diese Weise merkwürdig ohne Bezug; die Darstellung verliert sich damit in einem kontextlosen "und dann". Das gilt sogar für Ereignisse, mit denen Hardenberg ganz unmittelbar konfrontiert war: Der Krieg Preußens gegen Frankreich 1806 und auch die Niederlage von Jena und Auerstedt finden bei Gall letztlich nicht statt; im Verlauf der Lektüre bemerkt man, dass da etwas passiert sein muss, denn der König ist "inzwischen" auf der Flucht (133). Dass das Alte Reich - bei Gall vielleicht typisch für sein "Fremdeln" mit der Vormoderne schlankweg und unhistorisch als "Deutsches Reich" bezeichnet (95, 123 u. ö.) - fast zur gleichen Zeit aufgelöst wurde, erfährt der Leser nicht, was verwunderlich ist angesichts der Tatsache, dass damit ja für den Etatisten Hardenberg ein wesentliches Hemmnis des inneren Staatsumbaus endgültig beseitigt war. Auch das Vorbild oder zumindest die parallele Durchführung der Reformen in den Rheinbundstaaten - in der Forschung inzwischen prominenter als die preußischen - bleibt gänzlich unerwähnt, wie denn der Bund selbst kaum vorgestellt wird; fälschlich gibt Gall nur an, Preußen sei von Napoleon zum Beitritt gezwungen worden (211). Blass bleibt ebenfalls die Darstellung des Verfassungsproblems in Preußen: Die drängende Problematik des preußischen Verfassungsversprechens (eigentlich ja sogar derer zwei) und mit ihm eines wesentlichen Erbes der Reformzeit für Preußen wie für Deutschland wird überhaupt nicht einmal systematisch erörtert. Und ob Hardenberg tatsächlich eine "zu demokratisierende" Verfassung (193) anstrebte, mag man bezweifeln; die Einführung der "Demokratie" lag völlig außerhalb des Denkmöglichen bei den adeligen Vertretern seiner Generation.
Die Hardenberg-Biographie von Lothar Gall muss letztlich enttäuschen: Dem wissenschaftlich vorgebildeten Leser bietet sie keine neuen Einsichten oder Denkanstöße, dem interessierten Laien hingegen dürfte sie zu kontextlos bzw. zu voraussetzungsreich sein. Beiden Arten von Lesern ist mit der gut zehn Jahre älteren Biographie von Hermann doch besser gedient, der zwar auch keine echte Fachbiographie vorgelegt hat, doch den Leser mit seinem gut geschriebenen Sachbuch besser bei der Stange hält als Gall mit seinem doch eher, man kann es so sagen, lieblosen Lebensabriss.
Anmerkungen:
[1] Thomas Stamm-Kuhlmann (Hg.): Karl August von Hardenberg 1750-1822. Tagebücher und autobiographische Aufzeichnungen, München 2000; Thomas Stamm-Kuhlmann (Hg.): "Freier Gebrauch der Kräfte". Eine Bestandsaufnahme der Hardenberg-Forschung, München 2001; Ingo Hermann: Hardenberg. Der Reformkanzler, Berlin 2003; Christian Schmitz: Die Vorschläge und Entwürfe zur Realisierung des preußischen Verfassungsversprechens 1806 - 1819. Eine rechtliche Bilanz zum Frühkonstitutionalismus der Stein-Hardenberg'schen Reformzeit, Göttingen 2010.
[2] Heinz Duchhardt: Stein. Eine Biographie, Münster 2007; Wolfram Siemann: Metternich. Stratege und Visionär. Eine Biografie, München 2016. Mehrfachbesprechung im FORUM bei sehepunkte.de
Lothar Gall: Hardenberg. Reformer und Staatsmann, München / Zürich: Piper Verlag 2016, 283 S., 12 s/w-Abb., ISBN 978-3-492-05798-1, EUR 24,00
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