Die letzte Zarenfamilie polarisiert die russische Öffentlichkeit bis heute. Gerade die Frage des "richtigen" Gedenkens führt in religiösen und politischen Kreisen immer wieder zu heftigen Kontroversen. Dass die Familie im Jahr 2000 heiliggesprochen wurde und Zar Nikolaus II. einigen seitdem als unantastbarer Märtyrer gilt, verschärft oftmals die ohnehin schon schwelende Brisanz. Jüngst zeigte dies die bis zu Gewalttaten hinreichende Empörung um den Film "Mathilda", der die Romanze des (noch unverheirateten) Zarewitsch' mit einer Ballerina thematisiert und den die russisch-orthodoxe Kirche als blasphemischen Angriff verstand. Im Ausland diente das tragische Ende der Romanows über Jahrzehnte hinweg als Stoff popkultureller Auseinandersetzung. Am mythenumrankten Schicksal der letzten Zarentochter Anastasia etwa haben sich Filme in unzähligen Variationen abgearbeitet. Mit dem einhundertsten Jahrestag der Russischen Revolution 2017 stand auch die gesamte Familie wieder stärker im Fokus. Wie anhaltend groß die Faszination der Romanows ist bewies die diesjährige Ausstellung "Romanovs and Revolution" in der Amsterdamer Hermitage: mit über 200.000 Interessierten verzeichnete das Museum einen Besucherrekord.
In der äußerst umfangreichen Literatur zur Oktoberrevolution [1] als auch über den Romanow-Clan [2] ist die Geschichte des letzten Zaren und seiner Familie fest verankert. Die Zahl separater biographischer Werke zu Nikolaus II. ist dagegen recht überschaubar und seit etwa zwanzig Jahren nicht wesentlich gewachsen. [3] Dass der ungarische Publizist und Historiker György Dalos das Jubiläumsjahr der Revolution genutzt hat, den "Untergang des Hauses Romanow" aus der Perspektive der Zarenfamilie zu erzählen, ist daher zu begrüßen.
Auch wenn Dalos auf eine griffige These für seine Erzählung verzichtet, reicht allein das Umschlagbild des Buches aus, um ein Leitmotiv aufzuspannen. Es zeigt den Zaren im Kreis seiner Ehefrau und Kinder - aber nicht in prachtvoll pompöser Garderobe, sondern in einer unprätentiösen Marineuniform. Nikolaus und Alexandra, die scheu und verängstigt in die Kamera blickt, scheinen einem bürgerlichen Ehepaar hier viel näher als dem autokratischen Herrscherpaar des größten Landes der Welt. Das ist gewiss auch zeittypische Stilisierung, aber zugleich rückt damit die persönliche Familientragödie während der Revolutionswirren in den Vordergrund: die brutale Hinrichtung einer siebenköpfigen Familie, deren jüngstes Mitglied gerade einmal 14 Jahre alt war.
Auf knapp zweihundert Seiten verdichtet Dalos chronologisch die sich immer schneller windende Abwärtsspirale, in der sich Nikolaus seit seiner Inthronisation befand. Als dunkle Ouvertüre des Buches wählt der Autor die Krönungsfeierlichkeiten im Jahr 1896. Eine riesige Menschenmasse hatte sich auf dem Moskauer Chodynka-Feld versammelt und das Gedränge eskalierte schließlich in einer Massenpanik, die über 1300 Tote forderte. Dass die Feierlichkeiten zum einen fortgesetzt wurden und der Zar zum anderen seine schützende Hand über die mitverantwortlichen Familienmitglieder hielt, verankerte sich fest im öffentlichen Bewusstsein. Bereits hier zeigt Dalos, wie sehr Nikolaus zwischen politischer Notwendigkeit und moralischer Verantwortung schwankte, aufgrund seiner vielzitierten Willensschwäche zu lange um Entscheidungen rang und nicht als handlungsstarker Herrscher auftrat, sondern eher den Ratschlägen seiner Umgebung folgte.
Der Zar konnte sich in den Folgejahren nicht vom Schatten Chodynkas befreien - vielmehr wurde dieser mit jedem Schritt länger. So endete der russisch-japanische Krieg 1904/05 nicht nur mit einer fatalen Niederlage für Russland, schon Monate vor dem Friedensschluss mündete ein Generalstreik in St. Petersburg im sogenannten "Blutsonntag". Ein friedlicher Demonstrationszug wurde mit brutaler militärischer Gewalt aufgelöst. 200 Tote blieben zurück und die erste russische Revolution wurde befeuert. Nach langem Zögern unterzeichnete Nikolaus daraufhin das "Oktobermanifest", das freiheitliche Rechte und die legislative "Duma" festschrieb und für ihn jedoch nur marginale Bedeutung hatte. Das Jahr 1905 fällt für den Zaren in Dalos' Bilanz schlecht aus: "Das schwer geschädigte, im Übrigen tief religiöse, zu Fatalismus und Mystizismus neigende Ego brauchte dringend Trost und Rechtfertigung." (78)
Genau zu diesem Zeitpunkt trat Grigorij Rasputin, der charismatische sibirische Wanderprediger in das Leben des Zarenpaares. Das Vertrauen festigte sich über Alexij, den an Hämophilie erkrankten Sohn und Thronfolger. Denn vor allem die Zarin vertraute auf die heilende Kraft von Rasputins Gebeten. Je mehr Rasputin an Einfluss gewann, umso deutlicher wurde auch seine Funktion als Projektionsfläche: Für Alexandra als mystischer Heiler und damit zugleich als Garant der Monarchie, für Monarchisten auf der anderen Seite als ultimative Bedrohung des Zarentums. Das von der Presse kolportierte Bild Rasputins als "Erotoman und Säufer" (121), das schließlich auch die Zarin selbst miteinschloss, schien ein Abziehbild des moralischen Verfalls des zaristischen Reiches zu sein. [4] Die Diskreditierung der Zarenfamilie und ihrer Herrschaft verschärfte sich weiter im Ersten Weltkrieg, als Nikolaus 1915 selbst das Oberkommando über das Heer übernahm, die Regierung sich in der Folge destabilisierte und die Versorgungslage der Bevölkerung sich rapide verschlechterte. Aufgrund des zunehmenden Drucks sah sich Nikolaus 1917 schließlich zur Abdankung gezwungen.
Mit der Ermordung der Romanows in Jekaterinenburg 1918 reißt die Erzählung leider etwas unvermittelt ab. Ein kurzer Epilog zum Verlauf der polizeilichen Ermittlungen - die sterblichen Überreste der Familie wurden erst 1991 gefunden - hätte den Schluss noch weiter abgerundet. Bis dahin gelingt es Dalos, die Leserschaft kurzweilig durch die letzten 24 Lebensjahre des Zaren zu führen, ohne dabei an historischer Tiefenschärfe einzubüßen. Er macht es sich dabei allerdings nicht zur Aufgabe, das traditionelle Bild des letzten russischen Herrscherpaares in gänzlich neuen Farben zu zeichnen: an der Seite des schwachen, unentschlossenen und beeinflussbaren Zaren steht eine zur Melancholie und zur Hysterie neigende Zarin, die mit ihrer Verbundenheit zu Rasputin "geradezu blindlings das Verhängnis gegen sich selbst und ihre Familie herausforderte" (164). Auch wenn hier eine etwas feinere Schattierung wünschenswert gewesen wäre, entwirft Dalos mit dem Zarenpaar dennoch ein vielschichtiges Panorama:
Erstens zeigt es die rigide Unbeweglichkeit des zaristischen Systems, das sich in der Moderne als traditionalistisches Korsett immer enger um den autokratischen Herrscher schnürte. Wie sehr die familiären Verstrickungen der Dynastie dieses Korsett bestimmten, ist ein zweiter wesentlicher Aspekt, zu dem auch die höchst ambivalente Beziehung von Nikolaus zu seinem Cousin Wilhelm II. zählt. Mit dem letzten Zaren erzählt Dalos aber vor allem die beispielhafte Geschichte eines Herrschers, der die Zeitenwende verkennt und ignoriert. Dass Nikolaus sich der Moderne kaum öffnete, sondern vielmehr an einer verklärten Vergangenheit festhielt, wurde ihm und seiner Familie schließlich zum Verhängnis.
Anmerkungen:
[1] Martin Aust: Die Russische Revolution. Vom Zarenreich zum Sowjetimperium. München 2017. Immer noch das grundlegende Werk zum Thema: Orlando Figes: A people's tragedy. The Russian revolution 1891-1924. London 1996.
[2] Simon Montefiore: The Romanovs 1613-1918. London 2016; Matthias Stadelmann: Die Romanovs. Stuttgart 2008.
[3] Hélène Carrère d'Encausse: Nikolaus II. Das Drama des letzten Zaren. Wien 1998; Elisabeth Heresch: Nikolaus II. Feigheit, Lüge und Verrat. Leben und Ende des letzten russischen Zaren. München 1992.
[4] Der jüngste Beitrag zur Rasputin-Literatur analysiert den Wanderprediger als Produkt seiner Zeit und hinterfragt die gängigen Mythen: Douglas Smith: Rasputin. Faith, Power, and the Twilight of the Romanows. New York 2016.
György Dalos: Der letzte Zar. Der Untergang des Hauses Romanow. Deutsche Bearbeitung von Elsbeth Zylla, München: C.H.Beck 2017, 231 S., 23 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-71367-5, EUR 22,95
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