Wie weit das Diskursfeld des Orientalismus ist und dass es trotzdem nach wie vor seiner Ausdifferenzierung bedarf, machen zwei neue Sammelbände deutlich. Sowohl das von Joan DelPlato und Julie F. Codell herausgegebene Buch "Orientalism, Eroticism and Modern Visuality in Global Cultures" als auch der von Véronique Porra und Gregor Wedekind konzipierte Sammelband "Orient. Zur (De-)Konstruktion eines Phantasmas" beziehen sich auf Edward Saids Ausführungen zum Orientalismus. Der Band von DelPlato und Codell richtet den Fokus jedoch auch auf Saids Schriften nach seiner bahnbrechenden Studie "Orientalism" aus dem Jahr 1978 und verbindet Saids Thesen mit den Analysen Judith Butlers zu Körper und Geschlecht. Porra und Wedekind setzen sich hauptsächlich mit Saids Aussagen zum Orientalismus aus dem Jahr 1978 auseinander und versuchen dessen Mängel nachzuweisen. Für die Herausgeberin und den Herausgeber liegen Kunst und Theorie auf einer Vergleichsebene. Dies führt im Vorwort zu der so steilen wie diskussionswürdigen These, dass "künstlerische Arbeiten in ihrer Vielschichtigkeit" der "komplexen Realität globaler Austauschprozesse weitaus besser gewachsen sind", als die "antagonistischen Schemata" (23) der Postcolonial Studies.
Der Sammelband "Orientalism, Eroticism and Modern Visuality in Global Cultures" versteht unter Orientalismus kein stetiges Phänomen, sondern ein Überlappen sozialer und politischer Praktiken, die auch in künstlerischen Ausdrucksformen auffindbar sind (2). Orientalismus als Netzwerk von Praktiken zu verstehen, bietet die Möglichkeit, so die Hoffnung der Herausgeberinnen, Relationen von Dingen und Individuen in den Blick zu bekommen und die Subjektpositionen innerhalb der kolonialen Machtverhältnisse nicht in Handlungsfähigkeit versus Passivität einzuteilen. Auf diese Weise könne vermieden werden, das Eigene und das Fremde weiterhin festzuschreiben (18). Anhand von Fallbeispielen analysieren die Autorinnen und Autoren der sieben Beiträge Relationen zwischen Orientalismus und Erotik. Der intersektionale Fokus vermag es, sowohl historische als auch geografische Besonderheiten im langen 19. Jahrhundert aufzuzeigen. Grundlegend für das Verständnis einer Wandelbarkeit und damit auch Analysefähigkeit von Gender und Erotik sind die Ausführungen Judith Butlers. Für Butler sind sowohl die Konstitution von Geschlecht und Körper als auch Strukturen des Begehrens mit politischen und kulturellen Gegebenheiten verwoben. [1] Der zweite Grundpfeiler sind die Analysen Edward Saids. Den Herausgeberinnen ist es in ihrer ausführlichen und theoretisch fundieren Einleitung ein Anliegen, die nach Said durch Ethnizität, Nationalität und Religion sowie historische Ereignisse konstituierten Subjekte [2] mit Butlers Modell einer immer wieder aufs Neue hergestellten Gemachtheit von Body, Sex und Gender zu verbinden. [3] Damit erhoffen sich die Herausgeberinnen eine Revision der geläufigen Annahme, Erotik des Orientalismus bestehe alleine darin, dass westliche, heterosexuelle, weiße Männer auf orientalisierte Frauen blicken (4).
Auch wenn diese Erweiterung von Subjektpositionen nach den Bemühungen feministischer Theoretikerinnen und Theoretiker der 90er-Jahre klingt, schaffen es die Beiträge mit Schwerpunkten auf dem verworfenen Orientalischen, auf körperlichen Praktiken und Projektionen, insbesondere durch cross-dressings sowie auf zirkulären Strukturen orientalisch konnotierter Erotik neue Perspektiven auf Überschneidungen von Orientalismus und Erotik innerhalb und außerhalb Europas zu eröffnen.
James Smalls führt in seinem Beitrag aus, wie orientalisierte Homoerotik die heterosexuelle Norm im Zuge der nach 1870 aufkommenden Klassifizierungen des Homosexuellen gleichzeitig bedroht und bestätigt. Aufgrund der von Henri Regnault geforderten Hängung seines Gemäldes "Exécution sans jugement sous les rois maures de Grenade" im Salon von 1870, die den Betrachterblick des vermutlich männlichen Salonbesuchers auf der Höhe des abgeschlagenen Kopfes positionierte, analysiert Smalls ein Changieren zwischen Empathie mit dem Opfer und der Identifikation mit dem Gewalttäter. In den muskulösen Oberarmen erkennt Smalls ein homoerotisches Begehren. Auf dem Gemälde bleiben Furcht und Erotik ambivalent (34).
Mary Roberts zeigt in ihrem Beitrag, dass Haremsfrauen ihrer Selbstdefinition nach handlungsfähig und aktiv waren. Sie diskutiert, wie Begehrensstrukturen in den Reiseberichten der Künstlerin Elisabeth Jerichau-Baumann umgekehrt wurden. Gleiches erkennt Roberts in den Porträts von osmanischen Haremsfrauen, die für ihre fotografischen Selbstinszenierungen Pariser und einheimische Mode nutzten. Westliche Stereotype des Harems werden so ironisiert (156).
Reina Lewis geht der westlich-heterosexuellen Vermutung nach, dass der Harem von lesbischem Begehren nur so trieft. Sie zeigt auf, dass diese Auffassung sowohl politisch progressiv wie regressiv ist. Lewis geht der Frage nach, ob der westlich lesbische Blick anders strukturiert ist als der westlich männliche (175). Obwohl Lewis beide Blickpositionen als Teil des kolonialen Machtgefüges versteht, beschreibt sie in ihrer feinsinnigen Analyse der Gemälde von Jerichau-Baumann, wie eine weibliche homoerotische Annäherung durch das erotische Potential des Orientalismus ermöglicht wird.
Der deutsch-französische Sammelband "Orient. Zur (De-)Konstruktion eines Phantasmas" versammelt zwölf Beiträge, die im Rahmen einer interdisziplinären Ringvorlesung im Wintersemester 2014/15 an der Johannes Gutenberg Universität Mainz vorgetragen wurden. In ihrer Einleitung definieren Véronique Porra und Gregor Wedekind den Orient, ganz im Sinne Saids als "Projektionsfläche europäischer Denkweisen und Phantasmen" (7). Literatur und Malerei vermitteln, so die Herausgeberin und der Herausgeber, ein "hoch ambivalentes Bild des Orients, das einerseits exotische Träumereien nährt, andererseits als Projektionsfläche für westliche Machtbestrebungen dient" (11). Wie schon der Titel anklingen lässt, geht es um die Auflösung des Orientbildes als imaginäre Entität. Diesen Prozess erkennen Porra und Wedekind umso stärker "je mehr es [das Bild des Orients] als Diskursgegenstand konstruiert wird" (18). Diesen "Zersetzungsprozess" (18) sehen sie in der Reiseliteratur bereits sehr früh und "weit vor der postkolonialen Dekonstruktion der Idee des Orients" (18) von statten gehen. Ihre Kritik an Said richtet sich an dessen "durch und durch binären Analysen" (19). Durch Saids "eindeutige Interpretation" werde "ein fundamentaler Aspekt des Diskurses über den Orient ausgelöscht" nämlich "der Kontakt zwischen den Kulturen, der trotz allem stattgefunden hat" (20). Insbesondere Literatur und Kunst fungieren, so die Autorin und der Autor, als das was Mary Louise Pratt 1992 als Kontaktzonen bezeichnet hat (20).
Die hier anklingenden, die Beiträge rahmenden Fragestellungen wirken recht allgemein und allzu vertraut, insbesondere die Kritik an Saids binärem Denkmodell wurde früh unter anderem von James Clifford und Homi K. Bhabha geäußert. [4] Said hat bereits 1993 selbst eingeräumt, dass sein frühes Orientalismus-Modell darunter leidet, Elemente des kulturellen Austauschs und der Verschränkung von Kulturen innerhalb kolonialer Machtverhältnisse nicht zu beachten. [5] Wirken die Thesen der Einleitung wenig ausdifferenziert, machen die drei Schwerpunkte der Beiträge neugierig auf eine Lektüre der Artikel. Der erste Teil der Beiträge beschäftigt sich mit den Modalitäten und Grenzen der Darstellung des Orients im 19. Jahrhundert, der zweite nimmt die Produktivität der Kontaktzonen sowie Hybridisierungen in den Blick, und unter der dritten Überschrift sind Beiträge versammelt, die Phänomene produktiver Rezeption in Ost und West beschreiben.
Als Teil des ersten Schwerpunkts zeigt Melanie Ulz in ihren historisch fundierten Analysen der Bildproduktion zu Napoleons Ägyptenfeldzug auf, wie Krankheit Teil des kolonialen Diskurses ist. In den Grafiken der "Description de l'Égypte" ebenso wie in Historiengemälden, beispielsweise in "Les pestiférés de Jaffa" von Antoine-Jean Gros wird nahegelegt, dass Seuchen und ausschweifende Lebensführung in Ägypten das ordnende und sterilisierende Eingreifen der Franzosen notwendig machten. Die Einführung hygienischer Maßnahmen und die Erziehung zur Reinhaltung sind der territorialen Eroberung verschleiernd vorgeschoben (129).
Bertrand Tillier zeichnet in seinem Artikel die Ambivalenz und Hybridität der Figur des türkischen Kunstsammlers Khalil-Bey, genannt "Turc du boulevard" im Paris des Second Empire nach. Hat die Kunstgeschichtsschreibung Khalil-Bey bisher lediglich als bedeutenden Kunstsammler beachtet, der im Besitz von Ingres' spätem Haremsgemälde "Le Bain turc" sowie von Courbets Skandalbild "L'Origine du monde" war, zeigt Tillier die Spannung zwischen den Spuren auf, die Khalil-Bey bei den Zeitgenossen, insbesondere bei Theophile Gautier, als "l'Oriental occidentalisé" und gleichzeitig als "l'Oriental orientalisé" hinterließ (133).
Eine Rekonstruktion der Entstehungs- und Übersetzungsgeschichte der "Mille et une nuits" nimmt Andreas Gipper in seinem Artikel vor. Antoine Galland kommt hier nicht nur die bedeutende Rolle des Übersetzers eines Manuskripts von 281 Geschichten aus Syrien zu, sondern auch die Integration von Geschichten, wie beispielsweise die von Ali Baba und von Aladin, die ihm ein maronitischer Christ aus Syrien in Paris erzählte (196). Bemerkenswert daran ist die Tatsache, dass die von Galland eingefügten Geschichten, die in arabischen Manuskripten vor Galland nicht zu finden waren, heute Teil arabischer Editionen sind.
In der Zusammenschau der US-amerikanischen und der deutsch-französischen Publikation fällt auf, dass es kaum Überschneidungen in der rezipierten Literatur zum Orientalismus gibt und was den beiden Forschungskulturen bei der Formulierung neuer Forschungsfragen fehlt: In der deutsch-französischen Orientalismus-Rezeption wäre eine Aufgeschlossenheit gegenüber aktuellen Theorien schön. In der angloamerikanischen Rezeption wünscht man sich stellenweise ein größeres Vertrauen in das historische Material, in die Quellen und in die Kunst. Ganz allgemein möchte man den Ratschlag geben: Wenn es um kulturellen Austausch geht, kann ein Blick in die Forschungsliteratur der Anderen nicht schaden.
Anmerkungen:
[1] Judith Butler: Gender Trouble, New York / London 1990, 6.
[2] Edward Said: Culture and Imperialism, New York 1993, xii.
[3] Judith Butler: Gender Trouble, New York / London 1990, 10.
[4] James Clifford: Orientalism, in: History and Theory 19 (1980), Nr. 2, 204-223; Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, Tübingen (1994) 2000, 71.
[5] Edward Said: Culture and Imperialism, New York 1993, Kapitel 3.
Joan DelPlato / Julie F. Codell (eds.): Orientalism, Eroticism and Modern Visuality in Global Cultures, London / New York: Routledge 2016, XVIII + 234 S., 36 s/w-Abb., ISBN 978-1-4094-6395-5, GBP 95,00
Véronique Porra / Gregor Wedekind (Hgg.): Orient. Zur (De-)Konstruktion eines Phantasmas (= Mainzer Historische Kulturwissenschaften; Bd. 32), Bielefeld: transcript 2017, 272 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-8376-3502-7, EUR 29,99
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.