Am Beginn von Uwe Fuhrmanns Studie steht das Erstaunen darüber, wie unhinterfragt die "große und dramatische Erzählung" (9) von der Währungsreform im Juni 1948 und der folgenden Einführung der "Sozialen Marktwirtschaft" als lineare Erfolgsgeschichte ins deutsche kollektive Gedächtnis Eingang finden konnte. Noch erstaunlicher erscheint, dass auch die wirtschafts- und sozialhistorische Forschung diesen Mythos weitgehend unkritisch fortschrieb. Der Autor fragt in seiner materialreichen, differenzierten und methodisch anspruchsvollen Dissertation deshalb explizit nach der Entstehung dieser "Sozialen Marktwirtschaft", "den Umständen, den Gründen und den Beteiligten, kurz: nach ihrer Genese" (13). Das Buch liefert einen wichtigen Beitrag zu den Diskussionen um einen "deutschen Kapitalismus" und ist darüber hinaus in einer um kulturhistorische Fragen erweiterten Sozialgeschichte der Arbeit und der Arbeiterbewegung zu verorten. In diesem zeitgeschichtlichen Forschungszusammenhang durchaus innovativ, legt Fuhrmann seiner Untersuchung eine historische Dispositivanalyse zu Grunde und zeichnet so minutiös die (nicht-)diskursiven Ereignisse und Entwicklungen im kurzen, aber entscheidenden Zeitraum zwischen Kriegsende und August 1949 nach. Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf der Schwelle des dispositiven Umbruchs im Jahr 1948.
Zwar hätte das der kurzen aber prägnanten Einleitung folgende, sehr umfassende Theoriekapitel einer Kürzung, Zuspitzung und Glättung bedurft; dies ändert aber wenig daran, dass es dem Autor in der Folge gelingt, den Mehrwert seines Ansatzes entlang seiner empirischen Analyse zu verdeutlichen. Im Anschluss an Michel Foucaults Dispositivbegriff betrachtet Fuhrmann die "Soziale Marktwirtschaft" als interessengeleitetes Vorhaben, das auf den korrelierenden Ebenen der diskursiven Kämpfe, der wirtschafts- und sozialpolitischen Steuerung und schließlich auch der gesellschaftlichen Mobilisierung zu untersuchen sei. Gerade das zu Grunde gelegte Phasenmodell, bestehend aus Kontext, strategischem Dispositiv, Widerstand und Modifizierung überzeugt rundheraus und funktioniert gleichermaßen als Erklärungs- und Strukturmuster der Studie.
Zunächst arbeitet Fuhrmann die maßgeblichen Akteure und die politischen und sozioökonomischen Strukturbedingungen heraus (Kapitel 3). Die Mangelwirtschaft der Nachkriegszeit wurde von provisorischen Institutionen verwaltet und letztinstanzlich von der alliierten Besatzung in der sich verschärfenden Systemkonfrontation bestimmt. In Form von lokal aktiven Betriebsräten und Ausschüssen spielte auch die Basisorganisation der Arbeiterbewegung eine wichtige Rolle, bis sie von den reorganisierten Parteien, Gewerkschaften und Parlamenten zunehmend ersetzt wurden. Die "allgegenwärtigen Versorgungsmängel" befeuerten die Frage nach der "politisch-ökonomischen Orientierung" im sich abzeichnenden Weststaat (77).
Die Phase des "Notstands" (Kapitel 5) sei gekennzeichnet gewesen von materiellem Mangel, Versorgungsproblemen einer breiten "antikapitalistischen Grundstimmung" zwischen kommunistischen und liberalen Positionen. Die mit der Ausgestaltung der kommenden Währungs- und Wirtschaftsreform betrauten politischen Vertreter präferierten zunächst eine dezidiert freie Marktwirtschaft, während darüber hinaus auch wirtschaftsdemokratische und gemeinwirtschaftliche Konzepte in Betracht gezogen wurden. Entgegen der verbreiteten Erzählung war es gerade Ludwig Erhard der offen für diese Wirtschaftsform eintrat, ohne auf eigenständige Wirtschaftskonzepte zurückgreifen zu können. In der folgenden Phase, in der die freie Marktwirtschaft als "strategisches Dispositiv" gesetzt wurde (Kapitel 6), habe Erhard dann seit Anfang März 1948, nun als Direktor der Verwaltung für Wirtschaft, die Auffassung vertreten, dass nur der freie, in erster Linie von bestehenden Preisfestsetzungen unberührte Markt sozial wirksam sein könne. Effizienz und Produktivität spielten bei ihm eine ungleich höhere Rolle als soziale Fragen. Der erste, der schon im Januar 1948 von der sozialen Marktwirtschaft sprach, war der Ordoliberale und Sozialdemokrat Leonhard Miksch. Angesichts der prekären wirtschaftlichen Lage zielte Miksch auf eine stärkere staatliche Ordnungspolitik konkret bei Produktion, Preisen und Löhnen und sprach sich für ein Mehr an sozialstaatlicher Absicherung aus.
Die Preisfreigabe nach der Währungsreform im Juni 1948 intendierte dagegen vor allem die Stärkung des Unternehmertums. Dies führte in der Folge zu enormen Preissteigerungen für Güter des täglichen Bedarfs, wogegen sich eine breite Bewegung formierte, "deren Hauptbestandteil politischer Protest auf der Straße war" (165). Darüber hinaus richteten sich die Proteste auch gegen den aus der NS-Zeit weiterhin geltenden Lohnstopp, die offen zu Tage tretende soziale Ungleichheit und die Missachtung rechtsstaatlicher Prinzipien. Anhand lokaler Fallbeispiele werden die wütenden Proteste zwischen lokaler Spontanität, Mobilisierung und Organisation als Phase des "Widerstands" (Kapitel 7) gegen das Dispositiv der freien Marktwirtschaft beschrieben. Die Proteste richteten sich dabei explizit gegen diese liberale Wirtschaftsform und Ludwig Erhard, der in dieser Zeit als wirtschaftspolitisch Verantwortlicher unmittelbar mit den konkret spürbaren sozialen Härten identifiziert wurde.
Erst in der Phase der "Modifizierung" eignete sich Erhard den Begriff der "Sozialen Marktwirtschaft" an (Kapitel 8). Er wurde schließlich zum hegemonialen Begriff in der wirtschafts- und sozialpolitischen Debatte. Überzeugend legt Fuhrmann dar, wie sich dieser komplexe und konflikthafte Aneignungsprozess gestaltete und zu einem merklichen Kurswechsel führte. Zwar blieb das Konkurrenzprinzip ebenso unangetastet wie der Privatbesitz an Produktionsmitteln. Die Preisbildung wurde nun aber ebenso gelenkt wie die Produktion wichtiger Güter. Es sei Erhard mit einsetzendem Erfolg der Steuerungsmaßnahmen geschickt gelungen, sich als "Vater" der "Sozialen Marktwirtschaft" zu inszenieren, der diese gegen Widerstände in der alliierten Verwaltung durchgesetzt habe. Fuhrmann hält dagegen, dass dieser Prozess eher "im Affekt" und als Reaktion auf den breiten Protest eingesetzt habe (261).
Fuhrmann hinterfragt die wirtschaftlichen Gründungsmythen der Bundesrepublik. Hervorzuheben ist, dass sich der Autor mit Blick auf die Genese des ökonomischen Dispositivs keineswegs auf intellektuelle Entwürfe und politische Institutionen beschränkt, sondern sie im gesamtgesellschaftlichen Spannungsfeld betrachtet und dem bisher vernachlässigten gesellschaftlichen Basisdruck und der Rolle der Gewerkschaften zu ihrem Recht verhilft. So kommt er zu dem Schluss, dass die "Soziale Marktwirtschaft" keinesfalls am 20. Juni 1948 mit der Währungsreform eingeführt wurde, sondern als "Ergebnis gesellschaftlicher Auseinandersetzung" zu betrachten sei (317).
Trotz Abzügen beim etwas holprig geratenen Theoriekapitel ist die Analyse überzeugend, überdies sehr strukturiert und gut lesbar; dafür sorgen auch die Zwischenresümees. Gelungen sind auch der abschließende methodische Kommentar und der Epilog, in dem Fuhrmann anknüpfend an seine Ergebnisse über die Stellung der "Sozialen Marktwirtschaft" in der deutschen Geschichte insgesamt reflektiert.
Die Studie zeigt schließlich, wie sich eine historische Dispositivanalyse als Synthese aus sozial- und kulturtheoretischen Aspekten für die Geschichtswissenschaft nutzbar machen lässt. Es ist zu hoffen, dass Fuhrmanns Ergebnisse auch in einer breiteren Öffentlichkeit zur Kenntnis gelangen und mit Blick auf Thema und Ansatz weitere geschichtswissenschaftliche Forschungen anregen.
Uwe Fuhrmann: Die Entstehung der »Sozialen Marktwirtschaft« 1948/49. Eine historische Dispositivanalyse, Konstanz: UVK 2017, 359 S., 31 s/w-Abb., ISBN 978-3-86764-665-9, EUR 39,00
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