Das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs nimmt im deutschen Erinnerungshaushalt noch immer keinen prominenten Platz ein. Allerdings hat die historische Forschung seit der bahnbrechenden Studie von Christian Streit, die gut 30 Jahre nach Kriegsende, 1978, erschien, wesentliche Fortschritte erzielt. Dabei konzentrierte sie sich lange Zeit vor allem auf die Ziele deutscher Politik und ihre Umsetzung durch Parteistellen, Wehrmacht, Wirtschaftsbürokratien und Sicherheitsdienste, kurz gesagt: auf Vorhaben und Motivationen der Täter. Sukzessive wurde der Ansatz erweitert, um etwa über Lagergeschichten die konkreten Arbeits- und Lebensbedingungen der Gefangenen selbst zu erfassen. Schließlich rückten individuelle Schicksale in den Blick, die das Bild vom grauen Kollektiv der Gefangenen aufbrachen. [1] Der direkte Zugriff auf individuelle Biografien und damit auf konkrete, differenzierte Handlungsweisen und Antriebskräfte der kriegsgefangenen Akteure verspricht für die Forschung wichtige neue Erkenntnisse. Dieser Zugang trifft sich schließlich mit einer engagierten Gedenkstättenarbeit, die über die Aufdeckung der Vielfalt von kriegsgefangenen Biografien zu einer adäquaten Erinnerungskultur beitragen will.
Die Ergiebigkeit und Relevanz dieses Zugangs hat zuletzt eine Arbeit über die sogenannten Überläufer aus der Roten Armee gezeigt. [2] Die beiden vorliegenden Publikationen führen sie mit ganz anderen Schwerpunkten gleichfalls vor Augen.
Die Darstellung zur Geschichte sowjetischer Gefangener im ehemaligen Lager Stalag VII A Moosburg verdankt sich einer Initiative des Vereins Stalag Moosburg e.V. Der erste und umfangreichste Einzelbeitrag (Dominik Reither) beschreibt im Detail die Lebenssituation der Gefangenen und bettet sie in die Gesamtpolitik des 'Dritten Reichs' ein. Mit den Ausführungen u.a. zum Arbeitseinsatz, über Kontakte zur deutschen Zivilbevölkerung, zur medizinischen Versorgung, zu Flucht oder Kollaboration sind hier die wichtigsten Aspekte einer Lagergeschichte abgedeckt. Darüber hinaus werden die sogenannten Aussonderungen von Kriegsgefangenen sowie die Widerstandsbewegung "Brüderliche Zusammenarbeit der Kriegsgefangenen" (B.S.W.) besonders ausführlich dargestellt. Das Stalag VII A spielte in beiden Komplexen eine wichtige Rolle. Der "Fall Meinel" ist einer der wenigen dokumentierten Fälle, in denen sich Wehrmachtsoffiziere gegen konkrete Aussonderungsverfahren stellten. [3] Auf der anderen Seite waren Gefangene aus dem Stalag VII A maßgeblich an Gründung und Verbreitung der B.S.W. beteiligt. [4] Somit dürfen diese Komplexe in einer Geschichte des Lagers nicht fehlen. Die Schilderungen fügen dem Forschungsstand indes keine neuen Erkenntnisse hinzu. Zudem wird im "Fall Meinel" ein soldatischer Widerstandsgeist gegen die nationalsozialistischen Maßnahmen wenig überzeugend überzeichnet (145-150).
Die Rekonstruktion von Leben, Arbeiten und Sterben im Lager erfolgt sehr detailliert. Aus ihr lässt sich unter anderem ablesen, wie präsent sowjetische Kriegsgefangene - und ihr Schicksal - in der deutschen Kriegsgesellschaft waren. Allerdings spiegeln einige Wertungen oder Gesamtaussagen eher Minderheitenpositionen in der Forschung wider oder fallen widersprüchlich aus. So folgt der Autor hinsichtlich der Sterblichkeit der Gefangenen mal veralteten Angaben, mal neueren Ergebnissen. Die vermeintliche Gegenüberstellung von "Pragmatiker[n] und Realisten in Arbeitsverwaltung und Wehrmacht" auf der einen und "Ideologen" auf der anderen Seite ist in dieser Form längst überholt (31, 49), wie nicht zuletzt das Beispiel des (ab 1942) Chefs des Allgemeinen Wehrmachtamtes, General Hermann Reinecke zeigt. Das Genfer Abkommen von 1929 enthielt keine Allgemeinbeteiligungsklausel. Dass der Kommissarbefehl "nicht an alle Einheiten weitergegeben und auch nicht überall befolgt" wurde, diese Aussage knüpft eher an den Mythos von der sauberen Wehrmacht an als an den Forschungsstand. [5] Die Erinnerungen des letzten Lagerkommandanten, Oberst Burger, schließlich müssen sicher nicht durchweg für bare Münze genommen werden. Unabhängig von diesen Schwächen legt die Fallstudie erneut die generell bewusste Schlechterstellung von sowjetischen Gefangenen in nahezu allen Lebensbereichen und die einzigartigen Mordprogramme gegen einzelne Gruppen unter ihnen offen.
Wie schwierig es noch heute ist, die individuellen Opfer der deutschen Politik überhaupt erst zu identifizieren, demonstriert der zweite Beitrag im Band. Der dritte Beitrag (Christine Fößmeier) ist besonders anregend und innovativ. Die Autorin stellt Zeichnungen des französischen kriegsgefangenen Künstlers Alfred Gaspart sowie Fotoaufnahmen, die deutsches Personal von sowjetischen Gefangenen machte, gegenüber. In diesem Vergleich kann sie Aussagegehalt und Wirkung der Bilder und Fotografien differenziert analysieren. Suchte der Mitgefangene die individuellen Persönlichkeiten der sowjetischen Kriegsgefangenen zu ergründen, hoben die Objektive der Bewacher darauf ab, vermeintliche "Rassetypen" zu erkennen und festzuhalten (252). Wo Gaspart das Leid der Gefangenen einfühlsam festhielt, konstruierten Fotografen ein unwirkliches deutsches Idyll. Der deutsche Blick stellte die Gefangenen bloß, der französische spiegelte das miterlebte Grauen. In diesen Gegenüberstellungen wird buchstäblich sichtbar, wie notwendig es ist, über Debatten um deutsche Politik und Verantwortung hinaus die ehemaligen Kriegsgefangenen mit ihren ganzen Biografien einzubeziehen. Erst so wird das Gesamtphänomen der Gefangenschaft in Deutschland wirklich vollständig erfasst.
Vor diesem Hintergrund stellt die Publikation der Erinnerungen des ehemaligen Kriegsgefangenen Moisej Temkin einen Wert an sich dar. Der jüdische Offizier, 1917 geboren, geriet bereits Anfang Juli 1941 in deutsche Gefangenschaft. In den Aussonderungen wurde er zur Ermordung bestimmt und in das KZ Dachau überstellt. Hier überlebte er rein zufällig. Damit begann eine Odyssee durch weitere Konzentrationslager, die erst mit der Befreiung des Lagers Bergen-Belsen durch britische Truppen endete. Im Gegensatz zu vielen anderen Heimkehrern überstand Temkin das fällige sowjetische Filtrationsverfahren unbeschadet, sah sich aber als ehemaliger Kriegsgefangener sozialen Schikanen ausgesetzt. Erst später konnte er beruflich reüssieren. 1993 wanderte Temkin mit seiner Familie nach Israel aus. Hier verstarb er im Jahr 2006. Temkin schrieb bereits kurz nach dem Krieg erste Erinnerungen auf. Die publizierte Endfassung soll spätestens aus den 1970er Jahren stammen.
So unwahrscheinlich sein Bericht in Teilen klingt, so akkurat ist er: Die hilfreiche Einleitung und die genaue Kommentierung stützen mit zahlreichen Dokumenten deutscher und russischer Provenienz die Aussagen. Die gute Übersetzung trifft die nüchterne Sprache der Erinnerungen. Sie lässt ungeheuerliche Erlebnisse und wichtige Aspekte von sowjetischer Gefangenschaft in Deutschland umso stärker hervortreten: die desolate Situation der Gefangennahme, die frühe deutsche Suche nach jüdischen Gefangenen und deren Abhängigkeit von ihren Kameraden, Grausamkeit und ideologische Besessenheit von SS-Angehörigen, die Risse in der Lagergesellschaft, den Zerfall von Solidarität unter den Gefangenen einerseits, unerwartete Hilfestellungen andererseits, die Praxis des Aussonderungsverfahrens selbst, die Todesangst, sowie die Sekunden und Vielzahl von konkreten Entscheidungen von Dolmetschern, Schreibern, von Temkin selbst oder von seinen Mitgefangenen, die über sein Überleben entschieden. Nachdem er am Schießplatz Herbertshausen dem Tod offenbar tatsächlich durch ein Versehen der Gestapo entgangen war, machte ihn ein Dolmetscher zum Halbjuden. Bei der Verlegung nach Mauthausen wandelte sich Temkin zum Weißrussen Mirontschik, später zum "Polit.Russen" (116), der als solcher allen denkbaren Schikanen ausgesetzt war.
Nach der Befreiung musste Temkin erfahren, dass die deutschen Besatzer im Februar 1942 seinen Vater erschossen hatten. Doch erst 1954 durfte dem Vater sowie anderen jüdischen Opfern des Heimatorts ein Denkmal errichtet werden. Mit dieser bedrückenden Passage enden die Erinnerungen. Sie betten die individuellen Erlebnisse in die Gesamtgeschichte des nationalsozialistischen Vernichtungskriegs gegen die UdSSR sowie in die ambivalente Erinnerungslandschaft ein.
Zusammengenommen weisen die beiden Bände die Geschichte sowjetischer Kriegsgefangener als integralen, wesentlichen Bestandteil der deutsch-sowjetischen sowie gesamteuropäischen Kriegs- und Nachkriegsgeschichten sowie grenzüberschreitender Erinnerungskulturen und -debatten aus. Die komplexen Verflechtungen, Grenzsituationen und die vielfachen Schattierungen von Leben und Überleben in deutscher Gefangenschaft werden offenkundig besonders deutlich, wenn die ganze Bandbreite kriegsgefangener Biografien aufgeschlüsselt wird.
Anmerkungen:
[1] Einen vergleichsweise aktuellen Forschungsüberblick bietet Rolf Keller: Sowjetische Kriegsgefangene im Deutschen Reich 1941/42. Behandlung und Arbeitseinsatz zwischen Vernichtungspolitik und kriegswirtschaftlichen Zwängen, Göttingen 2011, 15-33.
[2] Mark Edele: Stalin's defectors. How Red Army soldiers became Hitlers collaborators, 1941-1945, Oxford 2017.
[3] Vgl. bereits Reinhard Otto: Wehrmacht, Gestapo und sowjetische Kriegsgefangene im deutschen Reichsgebiet 1941/42, München 1998, 208-227.
[4] Vgl. Joseph A. Brodski: Die Lebenden kämpfen. Die illegale Organisation Brüderliche Zusammenarbeit der Kriegsgefangenen (BSW), Berlin 1968.
[5] Vgl. Felix Römer: Der Kommissarbefehl. Wehrmacht und NS-Verbrechen an der Ostfront, Paderborn 2008.
Dominik Reither / Karl Rausch / Elke Abstiens / Christine Fößmeier: Auf den Spuren verlorener Identitäten. Sowjetische Kriegsgefangene im Stalag VII A Moosburg , Norderstedt: Books on Demand 2018, 303 S., ISBN 978-3-74609608-7, EUR 29,90
Moisej Beniaminowitsch Temkin: Am Rande des Lebens. Erinnerungen eines Häftlings der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Hrsg. v. Reinhard Otto, aus dem Russischen übersetzt von Tatjana Szekely, Berlin: Metropol 2017, 208 S., ISBN 978-3-86331-375-3, EUR 19,00
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