Konrad Canis schreibt "klassische" Diplomatiegeschichte, ohne sich dafür zu rechtfertigen und ohne den Debatten um die Entwicklung der Internationalen Geschichte Referenz zu zollen. Außenpolitisches Entscheidungshandeln als Hauptgegenstand und Noten, Memoranden, amtliche und halbamtliche Korrespondenz, gelegentlich Tagebücher der Entscheidungsträger als zentrale Quellen machen den Kern seiner umfangreichen diplomatiegeschichtlichen Publikationen aus. Die Kulturgeschichte der Diplomatie, die transkulturellen Voraussetzungen internationaler Politik, die Rolle von ökonomischen und sozialen Strukturen, der mediengeschichtliche Kontext finden in den Monographien von Canis nur am Rande Erwähnung. Auch auf Forschungsdiskussionen geht er in seinen Büchern nur gelegentlich explizit ein und die Hinweise auf Forschungsliteratur finden sich eher sparsam in den Anmerkungen. Wesentliche Grundlage der Argumentation sind durchgängig die Quellen, die publizierten wie die unveröffentlichten. Es wird wohl keinen besseren Kenner der Akten des Auswärtigen Amtes in Berlin bis 1914 geben als Canis. Sie bilden das Fundament seiner dreibändigen Geschichte deutscher Außenpolitik zwischen Reichsgründung und Julikrise, die zwischen 1999 und 2011 erschienen ist. Schon für diese Unternehmung griff Canis auch auf die Bestände des Österreichischen Staatsarchivs in Wien zurück, wo er sich über mehrere Jahre immer wieder als Gastprofessor aufhielt und die Gelegenheit nutzte, um im Haus-, Hof- und Staatsarchiv, aber auch im Kriegsarchiv ausgiebige Recherchen durchzuführen. Dass die Archivarbeit in Wien für seine Forschungen auch ergiebig war, bewiesen schon die Anmerkungsapparate seiner Bände zur deutschen Außenpolitik. Zugleich bot sich das gesichtete Material auch als Stoff einer Monographie über die Außenpolitik der Habsburgermonarchie im gleichen Zeitraum an.
Das vorliegende Werk über Österreich-Ungarns Platz im Mächtesystem Europas zwischen der Niederlage von Königgrätz und dem Attentat von Sarajevo ist komplementär zur Darstellung der deutschen Außenpolitik entstanden. Die genutzten Archive und die großen Linien der Interpretation europäischer Großmachtpolitik ähneln sich, nur die Perspektive wechselt weitgehend, auch wenn die Berliner Wahrnehmung der Lage Österreich-Ungarns vergleichsweise breiten Raum einnimmt. Bis 1890 ist eigentlich Bismarck die Hauptfigur des Buches und erst für die folgenden Jahrzehnte übernehmen die jeweiligen Außenminister der Habsburgermonarchie diese Rolle. Darin folgt die Darstellung der verbreiteten Deutung deutscher Außenpolitik in der Zeit des Kaiserreichs, die nach 1890 zumeist als vergleichsweise führungsschwach und eben epigonal wahrgenommen wird. Dass Canis die Akzente in seiner Studie österreichisch-ungarischer Außenpolitik entsprechend setzt, passt aber vor allem dazu, dass er die schon bei Bismarck zu findende Wertung der Habsburgermonarchie als einer gefährdeten Großmacht teilt. Diese Einschätzung kommt im Titel des Buches zum Ausdruck und wird als Resultat der Niederlagen 1859 und 1866 sowie der komplexen verfassungspolitischen und multiethnischen Struktur Österreich-Ungarns gedeutet (9-29). Von innen und außen bedrängt, wird die Außenpolitik der Habsburgermonarchie weitgehend als reaktiv interpretiert. Ohne Bismarcks Dominanz entwickelten sich nach 1890 phasenweise neue Spielräume für die österreichisch-ungarische Außenpolitik, ohne jedoch die grundlegende strategische Abhängigkeit vom deutschen Verbündeten aufzuheben. Genutzt hat die Habsburgermonarchie diese Spielräume kaum und auch die aktivistische Balkanpolitik Außenminister Aehrenthals ab 1906 hob die grundlegenden Schwächen der inneren Verhältnisse und der Beziehungen zu den anderen Großmächten nicht auf. Die Verschiebung der Großmachtkonstellation erhöhte aber spätestens ab 1913 den Stellenwert Österreich-Ungarns für den deutschen Alliierten und bildete die Grundlage für die Kriseneskalation 1914.
Der Julikrise widmet Canis ein differenziert argumentierendes Schlusskapitel, das in ein Resümee der Möglichkeiten und Grenzen österreichisch-ungarischer Großmachtpolitik mündet: "Im Zeitalter der Nationalbewegungen und der Nationalstaaten prägte der Verzicht und die Unfähigkeit, auf diesem Gebiet durchgreifende Reformen durchzusetzen, solche überhaupt in Angriff zu nehmen, durchgängig das Antlitz Österreich-Ungarns als Anachronismus in der der Moderne zugewandten Welt." Die Habsburgermonarchie, "gelähmt nach innen wie nach außen, war als Großmacht ins Abseits geraten, konnte als solche kaum noch gelten. Im Grunde war sie auf eine Stellung als Balkanmacht und als ein von Deutschland abhängiger Bündnispartner zurückgeworfen." (493 .) Die Darstellung von Canis steht damit quer zum Bild der Habsburgermonarchie, das beispielsweise Peter Judson zeichnet. Weil die Außenpolitik Österreich-Ungarns letztlich als abhängige Variable innenpolitischer Entwicklungen gewertet wird, wäre eine Diskussion der Forschungsmeinungen zum Entwicklungspotential der Habsburgermonarchie durchaus am Platz. Sie bleibt aus, so wie die Auseinandersetzung mit anderen Positionen in der Forschung zur internationalen Politik fast immer nur indirekt erfolgt. So eindrucksvoll die Quellenkenntnis und die Darstellungskraft auch sind, so liegt in der Herangehensweise von Canis auch ein Hindernis für die Rezeption seiner Werke. Anschlussfähig, wie man so sagt, sind sie nur bedingt, aber das dürfte auch nicht die Absicht des Verfassers sein. Er schreibt "klassische" Diplomatiegeschichte und wer die Sicht und die Züge der Außenpolitiker in Wien und Berlin zwischen 1866/71 und 1914 genau kennenlernen will, der wird an Canis nicht vorbeikommen.
Konrad Canis: Die bedrängte Großmacht. Österreich-Ungarn und das europäische Mächtesystem, 1866/67-1914, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016, 567 S., ISBN 978-3-506-78564-0, EUR 68,00
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