sehepunkte 18 (2018), Nr. 11

Mona Schieren: Agnes Martin

Obwohl Agnes Martin (1912-2004) zu den bedeutenden Akteuren und Akteurinnen der US-amerikanischen Kunst nach 1945 gezählt werden kann, wird ihr Gesamtwerk erst aufgearbeitet. Dem Ausstellungsband von Morris und der Biografie Princethals waren wenige Bildbände, Kataloge sowie gesammelte und herausgegebene Texte mit schriftlichen Äußerungen der Malerin vorangegangen. Eine erste Retrospektive wurde in Europa 2015 von der Tate Gallery of Modern Art in London ausgerichtet. Auch die zentrale Frage nach den transkulturellen Verflechtungen, welche für das komplexere Verständnis der bildnerischen Arbeiten Martins unabwendbar ist, griff bisher zu kurz beziehungsweise beschränkte sich auf eine bloße Verbindung von Künstlerin und Werk mit ostasiatischer Philosophie. Letztere Lesart diente weniger einer künstlerischen Analyse als vielmehr der Legendenbildung um die Künstlerperson ("meditierende Eremitin"). Diese Form der Ausdeutung von Künstler und Künstlerin und Werk, die in ihrem Ansatz bis auf die Tradition von Vasaris Viten zurückgeführt werden kann, wird bei Schieren nicht nur durch die Hinzunahme asiatischer Kategorien, zum Beispiel fernöstlicher Künstlerlegenden, erweitert, sondern auch zugunsten einer transkulturellen Bildübersetzung aufgebrochen.

Mit großer methodischer Kompetenz verknüpft Schieren Überlegungen der Kulturanalyse nach Mieke Bal und der Mediologie im Sinne von Régis Debray, um zu zeigen, inwiefern Transmissionsprozesse, die über die Erfahrung einzelner migrierender Künstlersubjekte hinausgehen, im Werk von Martin angelegt sind. Eine die Werke analysierende Rezeption soll unter Verwendung des von Spakowski / Frey geprägten Begriffs "Asianismus" nicht nur Greenbergs "Oriental modes" [1], die auf das Alleinstellungsmerkmal der US-amerikanischen Malerei plädieren, widersprechen, sondern auch die von Rosalind Krauss im Kontext der Nachkriegsmalerei vertretene Theorie des dualistischen Prinzips von Fülle / Leere oder das Raster als "Emblem der Moderne" [2] debattieren. Das formulierte Ziel verengte Perspektiven zu öffnen, gelingt in beeindruckender Weise. Das Buch umfasst 509 Seiten, das neben einer ausführlichen Bibliografie einen Abbildungsteil mit 245 Bildern inkludiert und materiell-qualitative Assoziationen zum Minimalismus - als deren Wegbereiterin Agnes Martin verstanden werden kann - schafft.

Die mit Martins Bildern verbundenen Aspekte der Meditation, Stille und Einsamkeit müssen der Autorin zufolge, die im Sinne Bernard Faures "Secondary Orientalism" argumentiert [3], im rezeptionsgeschichtlichen Kontext der kulturellen Übersetzung, Brechung und Aneignung gesehen werden. Das US-amerikanische Interesse an ostasiatischer Philosophie und Artefakten erscheint als wichtige kulturelle Prägung und wird nach dem Einleitungsteil in den vier Hauptebenen des Buches untersucht. Die Vorstellung über das Objekt ergibt sich zunächst aus dessen Anhäufung und Transfer in Museen. Die elitäre Asienbegeisterung erzielt nicht nur einen erheblichen Anteil an der Geschmacksbildung, wie etwa durch die asiatischer Kulturinstitute (American Oriental Society), sondern grenzt sich als Distinktionsmittel von der sich herausbildenden amerikanischen Massenkultur ab. Im Zuge nationaler Vereinnahmung gelangt der Exzeptionalismus später im Kulturkampf zwischen den USA und Japan zu einem Höhepunkt. Der themengeschichtliche Hintergrund des 1. Kapitels - frühe Präsentation japanischer Teekeramik auf der Weltausstellung in Philadelphia 1876, oder Ankäufe von asiatischen Artefakten durch Großindustrielle (J.D. Rockefeller Collection) - wird im nächsten Abschnitt anhand weiterer Multiplikatoren veranschaulicht.

Das 2. Kapitel nimmt sowohl die historischen Rezeptionsverläufe seit dem 19. Jahrhundert, als auch die Entwicklungen asianistischer Translationsprozesse nach 1945 kritisch in den Blick. Orientalisten und Asienforscher führen Studien durch und verfassen kunsthistorische Lehrbücher sowie philosophische Texte. Mit diesen Schriften beteiligen sich Okakura Kakuzō (1862-1913) und Daisetz T. Suzuki (1870-1966) als Akteure an der Translationsgeschichte. Ihre für den westlichen Leser gedachten, nationalistisch geprägten Texte verbinden Elemente der Teezeremonie mit dem japanischen Zen-Buddhismus und führen die Gelehrten Laotse (6. Jahrhundert v.Chr.) und Zhuangzi (4. Jahrhundert v.Chr.) in den Diskurs ein. Schieren verweist dabei auf die sich herausbildenden Kategorien wie der "Leere", die später zur asianistischen Bildästhetik beitragen werden. Außerdem nennt sie den ersten US-amerikanischen Vertreter Ernest F. Fenollosa (1853-1908) und dessen Schüler Arthur Wesley Dow (1857-1922) sowie Ananda K. Coomaraswamy (1877-1947). Zusammen erstellen diese Autoren ein "Set heterogener Kategorien": Problematisiert wird die Übertragung von Originalquellen ins Englische, weil auch begriffliche Äquivalente aus westlichen Kategorien des 18. Jahrhunderts, zum Beispiel der protestantischen Lehre, entnommen sind. Neue Kategorien wie etwa das "individuelle Erfahren" bei Suzuki seien so nicht in asiatischen Originalquellen anzutreffen. Damit gleicht Schieren das westliche Interesse an asianistischen Wahrnehmungskonzepten mit den Narrativen der US-amerikanischen Kultur ab.

Kapitel 3 fragt nach den Kontaktzonen der künstlerischen Arbeit und den biografischen Besonderheiten. Während also Martins Werk und Rezeption vorgestellt und Fremd- und Selbstreferenzen zueinander in Bezug gesetzt werden, wird die Vielzahl von Kulturalismen betont: In der Quellenanalyse bespricht Schieren Impulse von ostasiatischen Denkkonzepten genauso wie Einflüsse der Konzepte des Platonismus und des amerikanischen Transzendentalismus sowie der Praktiken der Native Americans. Durch die Erweiterung des Referenzrahmens um die indigene Kultur der Hopi und Navajo, koptischer Textilkunst aber auch der Künstlerin eigenes presbyterianisches Gedankengut entsteht ein "Set transkultureller Überlappungen". Als Zonen der Berührung werden aufgeführt: Austausch mit Migranten und Migrantinnen in ihrer Heimatstadt Vancouver (zum Beispiel Chinatown); Formen von Asianismen, wie sie in den 1940er- / 1950er-Jahren in New Yorker Künstlerkreisen (speziell im Umfeld der Galerie Betty Parsons), der Künstlerkolonie Taos (New Mexico) und in Wohngemeinschaften (Coenties Slip) sowie an der von Martin besuchten Hochschule zirkulieren. Neben den Texten des Arthur Wesley Dow spielt auch die Lektüre englischer und US-amerikanischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, die wie William Blake, Walt Whitman oder John Keats unter dem Einfluss des "Oriental Thought" standen, eine wichtige Rolle.

Mit vier Abschnitten stellt Kapitel 4 den umfassendsten Teil des Buches dar. Analysiert werden die ästhetischen Kategorien unter zentraler Bezugnahme auf Asianistisches durch das Diffuse / Aktive des Bildgrundes; die Vorrangigkeit der Linie bzw. das Raster und der damit verbundenen Wiederholung; bildgenetische Imperfektion und die Bedeutung von Reduktion und Leere. Diese bildästhetischen Strukturen setzt Schieren mit der Bildproduktion Martins in Beziehung und liefert damit den eigentlichen Beitrag für die Werkanalyse. Hybridität äußert sich in der Figur des Rasters und im Betrachter-Bild-Verhältnis. Das Konzept von Raum wohnt den Bildern Martins inne, als sich die Figur-Grund-Unterscheidung (nach Gottfried Boehm) aufhebt, und ein anderes Potenzial von Raum als Möglichkeit denkbar wird. Exemplifiziert wird dies am indischen Yantra-Motiv, das als "asianistische Denkfigur" zum Tragen kommt. Das Ephemere sogenannte sandpaintings, spirituelle Sandbilder, spielt neben den transsubjektiven Denkkonzepten eine ebenso wichtige Rolle. Aber auch unter Kritik europäischer kunsthistorischer Traditionen wie etwa der Zentralperspektive zeigt Schieren ganz konkret an Martins Bildern, auf welchen Ebenen Übersetzungen stattfinden. Martins asianistische Bildkonzepte spiegeln die repräsentationskritischen Debatten zu der Frage nach (Ent-)Subjektivierung der künstlerischen Geste, die im damaligen Umfeld der Minimal-Art diskutiert wurde. So kam Martins Kunst mit Nachkriegskunst in Berührung, wie etwa ab 1950 mit der Fiber Art. Ihre Malerei steht in Verbindung mit dem Interesse an einer handwerklich orientierten Kunstproduktion inmitten der High Art / Low Art-Debatte, deren Vertreter und Vertreterinnen wie Lenore Tawney gleichzeitig Künstlerfreunde und Künstlerfreundinnen Martins sind. Die bloße Erwähnung Tawneys kann als ein Desiderat gewertet werden.

Wer eine Monografie der Künstlerin erwartet, wird enttäuscht werden. Dies ist auch nicht das Anliegen der Autorin, die eine thematische Fokussierung auf transkulturelle Übersetzung legt und damit sowohl einen neuen Beitrag zur Künstlerforschung und Künstlerinnenforschung als auch der Kunstgeschichte eine innovative Methodik liefert. Ohne das große Bild außer Acht zu lassen, vereint Schieren unterschiedliche Quellen: zeitgenössische Berichte, der Künstlerin eigene Texte und schriftliche Praktiken, die sie mit asianistischen Schriften dieser Zeit abgleicht. Gerade diese Kontextualisierung und zahlreiche differenzierende Momente stellen die hohe Qualität des Buches dar. Das Thema der transkulturellen Übersetzung und Konstruktion asianistischer Ästhetiken nach 1945 verdeutlicht auch, dass es sich bei Martin gleichzeitig um ein Beispiel handeln muss. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren viele amerikanische Künstler und Künstlerinnen auf der Suche nach alternativen Bildkonzepten und bauten ihre ästhetischen Praktiken durch die Erprobung neuer Techniken aus. Damit zeigt die Autorin auf kluge Weise, inwiefern Werke Martins wie die Rasterarbeiten inspiriert von asiatischen Ästhetiken, Bildvorstellungen und Philosophien neu gelesen werden können.


Anmerkungen:

[1] Nicola Spakowski / Marc Frey (Hgg.): "Asianisms since the 19th Century", in: Comparativ 18 (2008), Nr. 6; Clement Greenberg: Art and Culture: Critical Essays, Boston 1961.

[2] Rosalind Krauss: "Grids", in: October (1979), Vol. 9, 50-64.

[3] Bernard Faure: Chan Insights and Oversights, Princeton 1993.

Rezension über:

Mona Schieren: Agnes Martin. Transkulturelle Übersetzung. Zur Konstruktion asianistischer Ästhetiken in der amerikanischen Kunst nach 1945, München: Verlag Silke Schreiber 2016, 414 S., 216 Abb., ISBN 978-3-88960-153-7, EUR 36,00

Rezension von:
Buket Altinoba
Institut für Kunstgeschichte, Karlsruhe Institute of Technology KIT
Empfohlene Zitierweise:
Buket Altinoba: Rezension von: Mona Schieren: Agnes Martin. Transkulturelle Übersetzung. Zur Konstruktion asianistischer Ästhetiken in der amerikanischen Kunst nach 1945, München: Verlag Silke Schreiber 2016, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 11 [15.11.2018], URL: https://www.sehepunkte.de/2018/11/29625.html


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