Geschichtliche Spielfilme stellen audiovisuelle Narrationen über die Vergangenheit dar und bieten ihren Zuschauern wichtige Deutungsrahmen für die Wahrnehmung historischer Ereignisse. Weitgehender Konsens herrscht in der Geschichtsdidaktik darüber, dass Filme in diesem Zusammenhang wirkmächtige Bilder generieren, die sich auf die Vorstellungen der Rezipienten auswirken. [1] Sabine Moller legt mit ihrer Publikation zum von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekt "Zeitgeschichte sehen" einen Beitrag vor, der die Frage beantwortet, wie Filme von ihren Zuschauern konkret angeeignet werden und wie bewegte Bilder sowohl vor dem Hintergrund des subjektiven Geschichtsbewusstseins als auch vor dem der öffentlichen Erinnerungskultur gedeutet werden. Hierzu wird eine kulturvergleichende Interviewstudie vorgestellt, die sich in erster Linie auf die Spielfilme 'Forrest Gump' [2] und 'Good Bye, Lenin!' [3] bezieht.
Bisherige empirische Studien fokussieren die Produktseite und analysieren die Deutungsangebote ohne aber die tatsächlichen individuellen Bedeutungszuschreibungen des allgemeinen Filmpublikums in den Blick zu nehmen. An dieser Stelle identifiziert die Autorin ein wesentliches Manko, da es sich bei Medienwirkung um kein eindimensionales und monokausales Ergebnis handelt. [4] Besonders deutlich untermauert Moller die konstruktivistische Sicht auf die Bild- und Filmwahrnehmung mit der Beobachtung, dass es durch die zunehmende Digitalisierung zu einer Annäherung zwischen Produzenten und Konsumenten kommt und Filmrezipienten immer häufiger die gesehenen Filmbilder digital montieren und die (Film-)Geschichten somit neu- und weitererzählen. Zugleich handelt es sich aber nicht um beliebige Wahrnehmungsvorgänge, weswegen Moller die Analyse der produktseitigen Darstellungsstrategien und die Aneignungsprozesse auf Rezipientenseite verknüpft.
Im Kapitel "Zugänge" legt die Autorin ihre breiten, interdisziplinären Forschungsgrundlagen dar und erläutert wichtige film- und geschichtswissenschaftliche Konzepte ebenso wie bildwissenschaftliche und erinnerungskulturelle Theorien. Durch die Berücksichtigung dieser verschiedenen Ansätze gelingt eine fundierte theoretische Triangulation. Stringent wird die Neu-Fokussierung auf die Zuschauer als Akteure in Kunstgeschichte, Visual History und Filmwissenschaft herausgearbeitet. Einen besonderen Ansatzpunkt findet Moller in den phänomenologischen Studien von Vivian Sobchak, durch die der spezifisch immersive Charakter von bewegten (Film-)Bildern verdeutlicht wird. Die Betrachtung eines bewegten Bildes erfolgt demnach aus einem explizit (körperlichen) Standort eines Subjektes, da durch Kameraperspektiven, Blickwinkel und Montagetechniken der Prozess des "subjektiven Sehens durch einen Körper" [5], das heißt das Mit-Blicken mit einer Filmfigur, ermöglicht wird. Hieraus resultieren spezifische "Sehepunkte" (197), die Moller auch in ihrer Befragung von Filmzuschauern ermitteln kann.
Die Analyseebenen für Filme werden ebenfalls konsequent auf die Betrachtungsweise bezogen und analog zu Hamanns Dreischritt von Abbild - Bild - Schlüsselbild [6] als Spur - Rahmen - Schlüssel (spezifische historische Sachverhalte - Darstellungsstrategie - Verbreitung und Kommunikation über den Film) bezeichnet. Als Visualisierungsstrategien, die für das Verständnis der gewählten Filmbeispiele fruchtbar gemacht werden, identifiziert die Autorin Bild-im-Bild-Konstruktionen, Unbestimmtheit und Leerstellen. Hierbei wird der Fokus auf den Bild-Aspekt von Spielfilmen nochmals deutlich. Weitere filmische Inszenierungstechniken, die beispielsweise die auditive Ebene betreffen, spielen dagegen keine herausgehobene Rolle.
Hinsichtlich der methodologischen Grundlagen zeigt Moller auf, dass eine systematische Rezeptionsforschung auch bei einem subjektorientieren Zuschnitt möglich ist, da in einem beeindruckenden Methodenmix äußerst umfangreiche Daten erhoben werden (56). Als Studienteilnehmer wurden ausschließlich Erwachsene berücksichtigt, damit die Ergebnisse unabhängig von normativ überfrachteten Lernkontexten gewonnen werden können.
Die betrachteten Filmbeispiele 'Forrest Gump' und 'Good Bye, Lenin!' sind überaus passend gewählt, da es sich um zwei bis heute sehr erfolgreiche und viel besprochene Filmbeispiele handelt und sich beide durch eine reflexive Inszenierung von Erinnerung beziehungsweise Vergangenheit auszeichnen und somit Anschlussmöglichkeiten an die eigene medial geprägte Lebenswelt eröffnen.
Die Zuschauerblicke (Kapitel "Filmaneignungen") werden nach einer produktseitigen Analyse der beiden gewählten Filme anhand von Einzelfällen dargestellt. Hierbei wird aufgezeigt, wie Geschichtsbewusstsein und filmische Inszenierung interagieren. Besonders aufschlussreich ist das Interview mit einer Historikerin (93-101), die dem Film 'Forrest Gump' auf unterschiedlichen Ebenen die Darstellung von "Realität" (97) beziehungsweise Authentizität zuschreibt - wohl wissend, dass es sich um eine fiktionale Erzählung handelt. Offensichtlich werden eigene Schwerpunktsetzungen und Sichtweisen durch den Film bestätigt gesehen ("emotionaler Realismus", 100). Dies korrespondiert mit dem von Moller identifizierten 'epistemic switching' (14) zwischen verschiedenen Aneignungsebenen, die sich in der emotionalen beziehungsweise körperlichen Dimension der ästhetischen Erfahrung einerseits und der auf Wissen abgestellten Lesehaltung andererseits unterscheiden lassen: Die Filmbilder werden von der Historikerin mit eigenen Erfahrungen belebt, während das Wissen um die historischen 'Fakten' untergeordnet wird. Weiterhin belegt Moller, wie die reale und imaginierte Anschlusskommunikation (142) die Aneignung eines Films mitprägen. Zudem werden weitere Spielfilme als Kontrasthorizont in die Betrachtung aufgenommen, sodass durchaus verallgemeinerbare Vorgänge in der Aneignung von Geschichte deutlich werden. Diese werden in Rollenzuschreibungen der Zuschauer untereinander, einem Fantasieren über Zuschauer, mentalem Probehandeln, intertextuellen Verweisen, Intermedialität, interpersonalen Verweisen und Verknüpfungen mit episodischen Erinnerungen und inneren Bildern gesehen (198).
Ein Exkurs zu veränderten Rezeptionsbedingungen im digitalen Zeitalter ist ebenso vorhanden wie die Betrachtung spezieller "Aneignungsfilme" (163-196), die die Aneignungsprozesse von Geschichte beziehungsweise Erinnerung selbst in Szene setzen und den sinnstiftenden Charakter filmischer Bilder visualisieren.
Als großer Vorteil der Studie ist festzuhalten, dass subjektorientierte Aneignungsprozesse erstmals empirisch dargelegt und sichtbar gemacht werden. Produktanalyse und Rezeptionsforschung werden gewinnbringend aufeinander bezogen, wobei Ansätze und Konzepte verschiedener Disziplinen innovativ und überzeugend zusammengeführt werden. Für die Geschichtsdidaktik bieten sich so beispielsweise Anknüpfungspunkte zur konstruktivistischen Ausrichtung oder zur Rolle von Emotionen und Geschichte. Auch wenn ausschließlich Erwachsene als Studienteilnehmer fungierten, bietet die Publikation dank der umfangreichen Filmanalysen ebenso Anregungen für die Gestaltung historischer Lernprozesse. Oftmals normativ ausgerichtete Vorschläge zur Analyse von geschichtlichen Spielfilmen in (schulischen) historischen Vermittlungsprozessen können nach der Lektüre der Studie zudem stärker auf die von Moller identifizierten Aneignungsprozesse ausgerichtet werden.
Anmerkungen:
[1] Aus der Fülle der Publikationen zum Zusammenhang von Geschichtsbildern und Studien seien genannt: Wolfgang Protzner / Brigitte Hoppert: Geschichtsbewusstsein aus der Glotze? Eine Bestandsaufnahme der fachdidaktischen Diskussion zum Thema "Geschichte und Fernsehen", München 1986; Harald Welzer (Hg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 2001; Albert Drews (Hg.): Zeitgeschichte als TV-Event. Erinnerungsarbeit und Geschichtsvermittlung im deutschen Fernsehfilm, Rehburg-Loccum 2008; Andreas Sommer weist in seiner Dissertation nach, dass der fiktionalen Visualität bei der Tradierung von Vergangenheit eine entscheidende Bedeutung zukommt, vgl. ders.: Geschichtsbilder und Spielfilme. Eine qualitative Studie zur Kohärenz zwischen Geschichtsbild und historischem Spielfilm bei Geschichtsstudierenden (Geschichtskultur und historisches Lernen; 5), Berlin u.a. 2010, 267.
[2] Robert Zemeckis: Forrest Gump, USA 1994.
[3] Wolfgang Becker: Good Bye, Lenin!, Deutschland 2003.
[4] Vergleiche Michael Schenk: Medienwirkungsforschung, 3. Aufl., Tübingen 2007. Sabine Moller hat darüber hinaus unlängst die fast einhundertjährige Geschichte der angloamerikanischen Filmwirkungsforschung zusammengestellt, die insbesondere auf die Frühzeit und damit ältere Arbeiten eingeht, vergleiche dies.: Movie-Made Historical Consciousness. Empirische Antworten auf die Frage, was sich aus Spielfilmen über die Geschichte lernen lässt, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 64 (2013), H. 7/8, 389-404.
[5] Vivian Sobchack: The Scene of the Screen. Beitrag zu einer Phänomenologie der "Gegenwärtigkeit" im Film und in den elektronischen Medien, in: Hans Gumbrecht / Ludwig Pfeiffer (Hgg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt a.M. 1988, 416-428, hier 422.
[6] Christoph Hamann: Visual History und Geschichtsdidaktik. Bildkompetenz in der historisch-politischen Bildung, Herbolzheim 2007, 39-43.
Sabine Moller: Zeitgeschichte sehen. Die Aneignung von Vergangenheit durch Filme und ihre Zuschauer (= Deep Focus; 27), Berlin: Bertz und Fischer 2018, 223 S., 171 Farbabb., ISBN 978-3-86505-330-5, EUR 25,00
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