Die Einführung der Reformation im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel im Jahre 1568 wurde, wie in anderen Territorien auch, von Bemühungen um das Schul- und Bildungswesen begleitet. Hierzu gehörte zum einen der Ausbau des niederen Schulwesens in Dörfern und Städten zur Vermittlung von Elementarkenntnissen und des Katechismus und zum anderen die Gründung höherer Bildungseinrichtungen zur Heranbildung einer dem Landesherrn verpflichteten Funktionselite. In Braunschweig-Wolfenbüttel wurden zu diesem Zweck in sechs von elf vorhandenen Männerklöstern Schulen eingerichtet, wobei der Klosterbetrieb nicht eingestellt, sondern unter evangelischen Vorzeichen und zum Zwecke des Unterhalts und der Organisation der Schulen weitergeführt werden sollte. Die sechs Klosterschulen waren hierarchisch in vier Klassenstufen eingeteilt: Grauhof, Riechenberg und Ringelheim fungierten als niedere Lehranstalten, die gleichberechtigt nebeneinanderstanden, während Amelungsborn, Riddagshausen und Mariental jeweils eine der drei höheren Klassen bereitstellten. Die vorzugsweise armen Schüler, für die landesherrliche Stipendien ausgesetzt waren, sollten zunächst eine der drei niederen Lehranstalten besuchen und sodann die Klassen in den drei höheren Schulen durchlaufen. Die Schüler wechselten die Klasse je nach Lernfortschritt und besuchten, sofern sie den gesamten Ausbildungszyklus absolvierten, nacheinander vier der sechs Klosterschulen.
Die bei Arnd Reitemeier in Göttingen entstandene Dissertation von Maike Gauger-Lange behandelt die genannten Klosterschulen von der Gründung unter Herzog Julius 1568/69 bis zum Tod von dessen Nachfolger Herzog Heinrich Julius 1613, also von der Reformation bis zur konfessionellen Konsolidierung des Herzogtums. In den Blick genommen werden Gründung und Entwicklung der Schulen, Aufsicht, Verwaltung und Funktionsweise der Einrichtungen sowie der Erfolg des Stipendiensystems mit Blick auf die Heranbildung einer Funktionselite für das Fürstentum. Methodisch wählt die Autorin hierbei einen doppelten Zugriff, indem sie zum einen institutionengeschichtlich und zum anderen kollektivbiographisch arbeitet. Überwölbt werden diese Ansätze von dem Versuch, die obrigkeitliche Schulpolitik Braunschweig-Wolfenbüttels im konfessionellen Zeitalter mithilfe jüngerer Ansätze zur Interpretation vormoderner Herrschafts- und Territorialstaatsbildung (Herrschaftsverdichtung, Normimplementation, Patronage) zu beschreiben. Letzteres ist insofern überaus sinnvoll, als die Schul- und Bildungsgeschichte in den Debatten der allgemeinen Geschichtswissenschaft in Deutschland immer noch kaum vorkommt. Gerade die Verknüpfung mit politischen respektive Herrschaftsfragen eröffnet vielfältige Möglichkeiten, die Bildungsgeschichte anschlussfähig zu machen.
Darüber hinaus kann die Studie in zwei Bereichen Forschungslücken schließen, zum einen hinsichtlich der Geschichte der betreffenden Klosterschulen und zum anderen mit Blick auf die Kollektivbiographie der Schüler- und Lehrerschaft. Die behandelten Klosterschulen waren bislang nur unzureichend erforscht, so dass die detaillierte Aufarbeitung des betreffenden Quellenmaterials vielfach neue Befunde bereithält, die für die Schul- und Bildungsgeschichte, aber auch die Landesgeschichte von Interesse sind. Nach einer Einführung in die Geschichte des evangelischen Schul- und Klosterwesens im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert, in der neben einem allgemeinen Überblick auf verschiedene Vergleichsbeispiele (Sachsen, Württemberg, Grafschaft Hohnstein) eingegangen wird (Kap. 2), widmet sich die Verfasserin der Gründung und Entwicklung der Klosterschulen in Braunschweig-Wolfenbüttel (Kap. 3). Das folgende, mit 80 Seiten für diesen Teil der Arbeit zentrale Kapitel analysiert Aufsicht und Verwaltung der Klosterschulen (Kap. 4). Untersucht wird einerseits das Zusammenspiel der Verwaltungs- und Kontrollorgane der Schulen (Landesherr, Konsistorium und Prälaten), wobei die oben genannte Forschungsdiskussion zur Herrschaftsbildung bzw. -durchsetzung den zentralen Referenzpunkt für die Interpretation bildet. Andererseits wird auf die eigentliche Verwaltung der Klosterschulen eingegangen. Schließlich behandelt die Autorin Details des Unterrichts im Vergleich von Norm und Praxis (Kap. 5).
Die skizzierten Kapitel sind vor allem für die Schulgeschichte als exemplarische Analysen von Interesse und können entsprechenden Arbeiten aus anderen Territorien an die Seite gestellt werden. Mit ihrer kollektivbiographischen Analyse betritt Gauger-Lange sodann tatsächlich Neuland. Sie behandelt hier nämlich im Gegensatz zu anderen schulgeschichtlichen Arbeiten nicht nur die Herkunft der 400 belegten Stipendiaten, sondern auch deren nachfolgende Karrieren. Hinzu kommen Daten zu weiteren 30 geförderten, aber nicht obligierten, also landesherrlich verpflichteten Schülern, 266 Jungen, für die lediglich das Aufnahmegesuch überliefert ist, nicht aber ihre Aufnahme oder Ablehnung, sowie 32 definitiv abgelehnten Bewerbern. Darüber hinaus werden auch die 83 ermittelten Lehrer kollektivbiographisch analysiert, während bisherige Studien sich meist auf die Nennung von Namen und Dienstzeiten des Lehrpersonals sowie Beispielbiographien beschränkten. Anhand ihres Materials kann Gauger-Lange Herkunft, Universitätsstudium sowie die späteren Berufe der Präzeptoren statistisch aufbereiten und analysieren (Kap. 6). Für die Stipendiaten kann sie dieses Spektrum noch erheblich erweitern, da hier eine breitere und differenziertere Datengrundlage vorliegt (Kap. 7). Analysiert werden geographische und soziale Herkunft, schulische Vorbildung, Alter bei Schuleintritt, Schulkarrieren, Verweildauer sowie schließlich Studium und spätere Berufe. Dabei zeigt sich letztlich der große Erfolg der Schulen als Kaderschmieden für die Funktionselite des Fürstentums, denn fast alle ehemaligen Stipendiaten (90,4%) waren später in weltlichen, geistlichen oder schulischen Ämtern in Braunschweig-Wolfenbüttel tätig. Dabei besetzten sie nicht nur Positionen in den zentralen Behörden und an zentralen Orten, sondern im gesamten Fürstentum, so dass sich aufgrund der Klientelbeziehung zwischen Fürst und Amtsträgern der herrschaftliche Zugriff auch in der Fläche intensivierte.
Während die vorausgehenden Kapitel sowohl aufgrund der intensiven Quellenauswertungen als auch der systematischen Anlage zahlreiche weiterführende Ergebnisse liefern, erscheint das letzte Kapitel, das exemplarische Lebensläufe in Einzeldarstellungen versammelt (Kap. 8), eher positivistisch und in seiner Isolierung wenig aussagekräftig. Es wäre sinnvoll gewesen, die betreffenden Beispiele punktuell in die kollektivbiographischen Kapitel einzubeziehen, um die dort präsentierten Zahlen mit individuellen Lebensgeschichten zu veranschaulichen. Abgeschlossen wird der Band durch die Edition einiger zentraler Quellen sowie einen knapp 200seitigen prosopographischen Anhang zu den Stipendiaten und den Präzeptoren der behandelten Klosterschulen, der die Grundlage für die statistischen Auswertungen in Kap. 6 und 7 bildet.
Insgesamt bietet Gauger-Lange eine gelungene schulgeschichtliche Studie zu den bislang kaum erforschten Klosterschulen in Braunschweig-Wolfenbüttel, die künftig mit Gewinn für vergleichende schulgeschichtliche Forschungen zu entsprechenden Einrichtungen in den Territorien des Reiches sowie landesgeschichtliche Arbeiten zur territorialen Integration durch Schule und Bildung herangezogen werden kann.
Maike Gauger-Lange: Die evangelischen Klosterschulen des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel 1568-1613. Stipendiaten - Lehrer - Lehrinhalte - Verwaltung (= Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens; Bd. 49), Göttingen: V&R unipress 2018, 645 S., 12 s/w-Abb., 21 Tbl., ISBN 978-3-8471-0810-8, EUR 85,00
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