"Wenn man nur etwas 'Ordentliches' gelernt hätte!" (51), klagte Erwin Panofsky 1922 in einem Brief an einen Freund - ebenjener Erwin Panofsky, der später zum "Einstein der Kunstgeschichte" avancierte, dessen anhand der Geste des Hutziehens veranschaulichtes dreistufiges Modell zur Analyse von Kunstwerken den Studierenden der kunsthistorischen Institute immer noch ein Begriff ist. Zu seiner Äußerung bewog ihn seine aussichtslose Situation: Er bekundete seine Bedenken, als "ewiger Privatdozent" (51) an einer Universität niemals Fuß fassen und mit seiner Arbeit als Kunsthistoriker seinen Lebensunterhalt verdienen zu können. Seine ausbleibende Festanstellung war nicht etwa der schwierigen finanziellen Lage der Universität geschuldet, sondern dem gesellschaftlichen und politischen Geschehen in Deutschland. Panofsky war Jude und lebte in einer Zeit, in der das Jüdisch-Sein zunehmend prekär wurde und den Zugang zu staatlichen Institutionen einschränkte. Als jüdischer Wissenschaftler hatte er kaum eine Chance, ein Amt an einer deutschen Universität zu bekleiden.
Der Kunsthistoriker lehrte viele Jahre in Hamburg, ohne ein finanzielles Auskommen dafür zu erhalten, arbeitete eng mit der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg zusammen, baute die geisteswissenschaftliche Lehre und Forschung an der neu gegründeten Hamburger Universität auf und bekam schließlich 1926 eine Professur, die er 1933 im Zuge der Machtergreifung der Nationalsozialisten wieder verlor. Die Geschichte seiner Person macht zugleich deutlich, welch gravierende Verluste die deutsche Wissenschaftsgeschichte verzeichnen musste, weil bedeutende Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen durch das nationalsozialistische Regime verfolgt, vertrieben, interniert oder gar ermordet wurden. In den USA machte Panofsky schließlich Karriere, veröffentlichte seine für die Kunstgeschichte grundlegenden Schriften zur Ikonologie und gilt heute als einer der Väter der modernen Kunstgeschichte.
Dass seine Zeit in Hamburg, die für ihn rückblickend zu den "glücklichsten und fruchtbarsten" (143) gehörte, den Grundstein für seine spätere wissenschaftliche Arbeit legte, zeigt Karen Michels Blick auf Panofskys Hamburger Jahre. Hinter dem zunächst etwas seltsam anmutenden Titel Sokrates in Pöseldorf, der auf eine Veröffentlichung Panofskys - Sokrates in Hamburg - anspielt, verbirgt sich eine sehr gut recherchierte und kurzweilig zu lesende Biografie zu einer der bedeutendsten Personen der Geschichte der Kunstgeschichte. Chronologisch und unter schlagzeilenartigen Titeln führt die Autorin durch Erwin Panofskys Zeit in Hamburg, zeigt die Schwierigkeiten auf, denen der jüdische Kunsthistoriker begegnete, die Auseinandersetzung mit Fachkollegen, sein Engagement für Warburgs Bibliothek und seine wissenschaftlichen Errungenschaften.
Ein kurzes Vorwort von Martin Warnke sowie Panofskys unter einem Pseudonym in Der Querschnitt veröffentlichte Dialog Sokrates in Hamburg im Anhang des Buches umrahmen Karen Michels Text, der den ersten Band der Reihe Wissenschaftler in Hamburg bildet. Reflektiert und kritisch betrachtet die Autorin Erwin Panofskys Hamburger Jahre und damit auch die Schwierigkeiten der noch jungen Universität. Der Kunsthistoriker kam 1920 aufgrund einer Anfrage Gustav Paulis, des Direktors der Kunsthalle, in die Hansestadt und habilitierte sich dort. Die neue Universität wurde erst ein Jahr zuvor gegründet - nicht ohne starke Ressentiments gegen eine solche Einrichtung. So zitiert Michels Fritz Schumacher, den späteren Oberbaudirektor: "Als ich 1909 nach Hamburg kam, musste man in den meisten Kreisen sehr vorsichtig von einer Universität sprechen, sehr einflussreiche Leute sahen in ihr nicht nur etwas Überflüssiges, sondern ein Bleigewicht für die wirtschaftliche Stoßkraft Hamburgs." (32)
Trotz aller Widrigkeiten, die mit der Neugründung der Universität einhergingen, hatte Panofsky sich frühzeitig als Anwärter für einen eventuell zukünftigen kunsthistorischen Lehrstuhl positioniert. Großes Interesse zeigte er an Warburgs Forschungen und war "fast täglich unser Gast und der eifrigste Besucher unserer Bibliothek", schrieb deren Leiter Fritz Saxl an Aby Warburg und führte aus: "Worüber ich mich sehr freue, ist, dass er nicht nur die Bücher verwendet, sondern auch versucht, sie in Ihrem Sinne zu verwenden." (39) Während seiner Zeit in Hamburg und in der geistigen Umgebung von Warburgs Bibliothek, so zeigt Michels, fand und entwickelte Panofsky seine Forschungsinteressen, die später in bedeutende Arbeiten mündeten: So etwa entstand aus seiner Zusammenarbeit mit Fritz Saxl die bahnbrechende Publikation Saturn und Melancholie und in seiner Ikonologie finden sich Impulse der in Hamburg ansässigen Wissenschaftler Cassirer und Warburg. Zahlreiche Ausschnitte aus Briefen veranschaulichen seinen regen wissenschaftlichen Austausch mit Studierenden und Kollegen und Kolleginnen verschiedener Fachrichtungen, mit denen er Probleme erörtert und Fragen diskutiert und deren Rat er einholt. Auch kritische Töne haben ihren Platz in den Briefen, nicht nur von Panofsky formulierte, sondern auch an ihn gerichtete. Nach dem Erscheinen eines von ihm verfassten Beitrags in einer Tageszeitung, teilte ihm seine Schwiegermutter unumwunden mit, dass sie seinen Text für zu schwer erachte und erklärte: "Das Publikum will nicht, wenn es die Zeitung liest, das Konversationslexikon dabeihaben, um Fremdworte [...] nachzuschlagen." (83)
Karen Michels biografische Ausführungen zu Panofskys Zeit in Hamburg vereinen fachliche und berufliche Dimensionen mit persönlichen Erfahrungen des Kunsthistorikers und enthüllen sowohl den Kampf mit Selbstzweifeln, finanziellen Schwierigkeiten, gesellschaftspolitischen Widrigkeiten und hochschulpolitischen Entscheidungen als auch Panofskys große Leidenschaft für die Kunstgeschichte, seine Freude an Forschungsreisen, seine familiären und freundschaftlichen Beziehungen sowie einige amüsante Anekdoten. Dabei stellt sich seine Frau Dora, die ebenfalls Kunsthistorikerin war und später mit ihrem Mann die Studie Pandora's box. The changing aspects of a mythical symbol publizierte, als eine Persönlichkeit heraus, über die man gerne mehr erfahren würde.
Michels, die sich in ihrer Forschung bereits mit dem Leben und Wirken Panofskys befasst hat [1], nutzt das heterogene Quellenmaterial souverän, um ein vielschichtiges Bild seiner Zeit in Hamburg zu zeichnen. "The last days here were very beautiful in a sweetly-melancholy style" (134), schrieb Panofsky in seinem letzten Brief aus Hamburg im Juli 1934. Obwohl der später in Princeton ansässige Kunsthistoriker nach dem Krieg Reisen nach Europa und sogar nach Deutschland unternahm, kehrte er zeitlebens nie wieder nach Hamburg zurück.
Anmerkung:
[1] Etwa in ihrer Habilitationsschrift Transplantierte Kunstwissenschaft. Deutschsprachige Kunstgeschichte im amerikanischen Exil, Berlin 1999 oder in dem zuvor erschienenen Aufsatz Erwin Panofsky und das kunsthistorische Seminar, in: Arno Herzig / Saskia Rohde (Hgg.): Die Geschichte der Juden in Hamburg. Band: Die Juden in Hamburg 1590 bis 1990, Hamburg 1991, 383-392.
Karen Michels: Sokrates in Pöseldorf. Erwin Panofskys Hamburger Jahre (= Wissenschaftler in Hamburg; Bd. 1), Göttingen: Wallstein 2017, 172 S., 64 Abb., ISBN 978-3-8353-3155-6, EUR 19,90
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