sehepunkte 19 (2019), Nr. 4

Katharina Trittel: Hermann Rein und die Flugmedizin

Katharina Trittel, Historikerin am Göttinger Institut für Demokratieforschung, hat 2014 eine methodisch originelle, inhaltlich nicht ganz unumstrittene Monographie über den Chirurgen Rudolf Stich veröffentlicht [1]. Mit ihrer Dissertation über den Physiologen Hermann Rein legt sie eine weitere Untersuchung über einen prominenten Göttinger Mediziner der NS-Zeit vor. Mit der Vorgängerstudie hat sie neben einer erinnerungskulturellen Virulenz auf lokaler Ebene - um nach den beiden Ärzten benannte Straßen entbrannte 2013 eine kontroverse Debatte - ein Quellenproblem gemein. Wie zuvor bei Stich erforderte die verwehrte Einsichtnahme in den im Familienbesitz befindlichen Nachlass einen breit kontextualisierenden Zugriff. In diesem Fall hat sich Trittel für eine mentalitätsgeschichtliche Einbettung entschieden. Die Studie ist als eine um Rein zentrierte Kollektivbiographie der deutschen flugmedizinischen Elite zwischen Jahrhundertwende und früher Bundesrepublik angelegt.

Das ist bereits insofern begrüßenswert, als in der NS-Medizinhistoriographie zwar viel gruppen- und einzelbiographisch gearbeitet worden ist, eine nennenswerte, über die Zäsuren 1933 und 1945 hinausführende Mentalitätsgeschichte aber zu den augenfälligen Versäumnissen zu rechnen ist. Auch ist der Ansatz in diesem konkreten Fall vielversprechend. Rein war auf seinem Spezialgebiet ein zentraler Akteur und zudem bestens vernetzt. In Göttingen, wohin er 1932 berufen wurde, verfügte er ab 1938 über ein vom Reichswissenschaftsministerium protegiertes Institut, das zu einer der wichtigsten wehrmedizinischen Universitätseinrichtungen des 'Drittes Reichs' avancierte. Nach 1945 war Rein, der nicht der NSDAP angehört hatte, zeitweilig Rektor seiner Hochschule und am Aufbau der Max-Planck-Gesellschaft beteiligt. Die Literatur über den mehrfach für den Nobelpreis vorgeschlagenen Mediziner, der 1953 im Alter von 55 Jahren verstarb, ist gleichwohl überschaubar. In der Forschung blieb vor allem der Streitpunkt, ob es konkrete Verbindungen zwischen seinen Institutsprojekten und den von der Luftwaffe mitinitiierten Höhen- und Kältetod-Versuchen im Konzentrationslager Dachau gab.

Im Kern greift Trittel einerseits eine Überlegung auf, die erstmals wohl Alexander Mitscherlich 1960 in der zweiten Auflage seiner bekannten Dokumentation über den Nürnberger Ärzteprozess ("Medizin ohne Menschlichkeit") formuliert hat: Inwiefern hatte die sich in der Flugmedizin früh ausbildende Mentalität des "Höher - Weiter - Schneller" entscheidenden Anteil an der ethischen Entgrenzung auf diesem Feld in der NS-Zeit? Zum anderen wird nach den intellektuellen Strukturelementen gefragt, die Rein als Forscher "ein kohärentes Selbstverständnis [É] durch drei politische Regime" ermöglichten (23). Den mentalitätshistorischen Ansatz kombiniert Trittel auf schlüssige Weise mit verschiedenen Konzepten der Analyse von wissenschaftlicher Vernetzung, Ressourcenmobilisierung und Elitenkontinuitäten. Empirisches Fundament indes stellen Recherchen zum Netzwerk dar. Trittel hat dazu in zwanzig Archiven geforscht und kann zudem u. a. auf den Arbeiten Karl-Heinz Roths und einer jüngst erschienenen Untersuchung von Timo Baumann aufbauen [2].

Das Interesse gilt zunächst mentalen und habituellen Prägungen deutscher Flugmediziner zwischen Jahrhundertwende und Weimarer Republik (Kap. 2), um daran anschließend Reins hochschulpolitisches Umfeld zu skizzieren (Kap. 3). Im vierten Kapitel wird das methodische Instrumentarium voll ausgespielt. Es gelingt eine über weite Strecken ungemein dichte Darstellung der Verflechtungen von Reins Institut, so insbesondere mit Blick auf die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und die Luftwaffensanitätsinspektion, sowie der Kooperations- und Konkurrenzverhältnisse, die zur SS bestanden. Gleichwohl vermag die Studie kaum ein neues Licht auf die zentrale Frage nach dem aktiven Anteil Reins an dem ab 1939 massiven Zusammenspiel von "Entgrenzung und Erkenntnisstreben" zu werfen. Letztlich kommt sie über ältere Befunde, dass bei diesem schrittweisen Prozess eine für die Flugmedizin charakteristische mentale Disposition eine conditio sine qua non dargestellt habe, nicht hinaus, wenngleich sie als Ausdruck einer spezifischen "Pflicht-, Leistungs- und Opferbereitschaft" weit genauer gefasst wird als bisher.

Problematisch sind Teile der Netzwerkanalyse. Zum einen verlegt sich Trittel dort, wo valide Quellen fehlen, mitunter auf allzu assoziative Thesenbildungen, ein Vorgehen, das bereits in Besprechungen des Bands über Stich kritisch kommentiert worden ist [1]. Das führt auch in dieser Studie wiederholt zu zweifelhaften Schlüssen und endet in Sackgassen. Schwer verständlich ist etwa die Deutung eines im Nachlass von Reins ehemaligem Assistenten Franz Grosse-Brockhoff aufgefundenen Schreibens aus dem Jahr 1979, das um Humanexperimente kreist und als starkes Indiz gewertet wird, dass dieser vielleicht doch in Dachau gewesen sei. Hier verwechselt Trittel aber schlicht auf der Grundlage von Namensähnlichkeiten die tatsächlichen Korrespondenzpartner - zwei in den 1970er-Jahren zu den zentralen Figuren der Etablierung von Medizinischen Ethik-Kommissionen zählende Mediziner - mit bekannten NS-Tätern. Zum anderen ist es ein Manko, dass die Netzwerkanalyse nicht systematisch auf den Reichsforschungsrat (RFR) ausgedehnt wird. Mehrere Akteure und Strukturen, die für die Ermöglichung flugmedizinischer Forschungsprojekte zentral waren, fallen dadurch aus dem Blick. Das gilt vor allem für das Netzwerk um Kurt Blome, der nach der überlieferten DFG-Kartei für die Dachau-Aufträge verantwortlich zeichnete, und für die wehrmedizinische Fachsparte Wilhelm Richters, bei dem, wie Baumann unlängst zeigen konnte, Reins - und weitere Forschungen aus seinem Kontext - angesiedelt waren. Hier wurde einmal mehr die Chance vertan, am Fall eines aufschlussreichen Felds die immer noch defizitäre Forschungssituation über die Vergabepraxis der insgesamt sieben medizinischen bzw. medizinnah agierenden RFR-Abteilungen zu erhellen.

Überzeugender fällt dagegen das abschließende Kapitel über "Elitenkontinuität in den Nachkriegsjahren" aus. Anhand des Nürnberger Ärzteprozesses und des von Rein mitbestrittenen "Göttinger Dokumentenstreits" um das Buch Mitscherlichs wird konzise herausgearbeitet, wie das Entlastungsnarrativ der "reinen Wissenschaft" mit dem Mythos von der "sauberen Wehrmacht" verwoben wurde. Das Verdienst dieser Abschnitte liegt weniger in der direkten Schärfung der Konturen Reins als gerade darin, dass diese Konturen hier mehr zum Verschwimmen gebracht werden als in jenen über die NS-Zeit.

Ein Fazit über die in ihrem Materialreichtum oft beeindruckende, mit vielen streitbaren Interpretationen und manchen Unschärfen aufwartende Studie zu ziehen, fällt nicht leicht. Zur Geschichte der deutschen Flugmedizin wurde mit einem umfassenderen Anspruch bisher nicht gearbeitet. Für die weitergreifende Diskussion zur NS-Medizin dürfte der perspektivische Mehrwert nicht zuletzt in den methodisch erfrischenden Überlegungen liegen.


Anmerkungen:

[1] Katharina Trittel u. a.: Weißkittel und Braunhemd. Der Göttinger Mediziner Rudolf Stich im Kaleidoskop, Göttingen 2014. Die Studie wurde heftig kritisiert in der Besprechung von Horst Gundlach auf HSozKult (6.2.2015); abwägender, aber in der Tendenz ähnlich, von Florian Mildenberger in: HZ 302 (2016), 849 f.

[2] Timo Baumann: Die Deutsche Gesellschaft für Kreislaufforschung im Nationalsozialismus 1933-1945, Berlin/Heidelberg 2017.

Rezension über:

Katharina Trittel: Hermann Rein und die Flugmedizin. Erkenntnisstreben und Entgrenzung, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018, 587 S., 5 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-79219-8, EUR 68,00

Rezension von:
Richard Kühl
Eberhard Karls Universität, Tübingen
Empfohlene Zitierweise:
Richard Kühl: Rezension von: Katharina Trittel: Hermann Rein und die Flugmedizin. Erkenntnisstreben und Entgrenzung, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 4 [15.04.2019], URL: https://www.sehepunkte.de/2019/04/32235.html


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