Was haben ein Comicstrip, die Ostermarschbewegung und ein Burda-Schnittmuster miteinander zu tun? All diese Artefakte und Phänomene gehören nicht nur der Populärkultur an; sie wurden auch transnational rezipiert oder sogar produziert. Folgerichtig finden sie sich einträchtig nebeneinander in dem von dem Saarbrücker Historiker Dietmar Hüser herausgegebenen Band Populärkultur transnational wieder.
Dessen große Bandbreite folgt einer erklärten Programmatik. Der Untertitel Lesen, Hören, Sehen, Erleben im Europa der langen 1960er Jahre proklamiert ein erweitertes Verständnis des bislang stark von klanglichen Phänomenen dominierten Begriffs der Populärkultur indem er weitere sensorische Kategorien benennt. Dies allerdings weniger im Sinne der jüngeren sensory studies, denn die Ordnungskategorien des Bandes "Lesen", "Erleben" und auch "Mitreden" bezeichnen eher komplexe Kulturtechniken als Sinneswahrnehmungen. Damit folgt er dem Konzept eines französischen Bandes. [1] Die Einbeziehung Frankreichs ist paradigmatisch, denn Populärkultur wurde in der Zeitgeschichte bislang vor allem im Kontext einer Amerikanisierung rezipiert, wie der Herausgeber eingangs bemerkt. Müssen wir Populärkultur also nicht nur inhaltlich erweitern, sondern auch räumlich neu vermessen? Dies hätte weitreichende Konsequenzen für die zeithistorische Raumordnung kultureller, auch politisch relevanter Grenzziehungen.
Gleich eingangs öffnet Hartmut Nonnenmacher einen solchen, romanisch geprägten Kulturraum, indem er das "Comic-Feld" über Frankreich, Spanien und Argentinien ausbreitet. Dieses Feld habe sich ähnlich wie die "kulturelle Konsekration" des Filmes formiert, etwa mit der Etablierung des Begriffs graphic novel. Unter dieser Gattungskategorie sollte das oftmals der Zensur unterworfene massenkulturelle Medium durch etablierte Kategorien wie Autorschaft und "einen akademisch-sakralisierenden Umgang" zum offiziellen Kulturprodukt aufgewertet werden (29). Eine ähnliche Wahrnehmung erfuhren Kinofilme des poetischen Realismus in den höchst unterschiedlichen Diktaturen Spaniens und der DDR, da die Rezeption im jeweils anderen Land "oft in kleineren, eher spezialisierten Kreisen" von Filmclubs und cineastischen Klein-Zeitschriften stattfand: etwa auch in dem, von Lukas Schaefer gesondert untersuchten westdeutschen Magazin Filmkritik, das sich stark an Italien orientierte (161). Hier lässt sich allerdings fragen, wie "populär" die untersuchten Phänomene damit eigentlich noch waren.
Auch die deutsche Rockmusik gelangte über eine spezialisierte Fachpresse in den internationalen Musikdiskurs. Alexander Simmeth, der zum Thema eine transnationale Monographie veröffentlicht hat, arbeitet heraus, wie experimentelle, elektrisch verstärkte Musik unter dem germanisierenden Begriff "Krautrock" in den späten siebziger Jahren (der hier sehr in die Länge gezogenen Sixties) expressive Deutschland-Klischees in der Fachpresse hervorbrachte: "drums like a Panzer division, the whole Wagner in black leather bit" (93). [2] Die rockmusikalische Dominanz der USA stellt auch Egbert Klautke infrage, indem er die "British Invasion" durch Beatmusik Liverpooler Provenienz um 1965 als eine Verkomplizierung der "Austauschverhältnisse zwischen alter und neuer Welt im Bereich der Unterhaltungsmusik" wertet (107).
Zu deren Verflechtung trugen maßgeblich neue Jugendzeitschriften bei. Aline Maldener, die kürzlich einen eigenen grundlegenden Sammelband zum Thema mitherausgegeben hat [3], vergleicht die Anteile an Werbeanzeigen für ausländische Produkte in Zeitschriften wie der britischen Fabulous, der französischen Salut les copains und der bundesdeutschen Bravo und sieht darin die kulturellen Deutungssysteme der jeweiligen Herkunftsländer "derart transformiert, dass ein hybrides 'Neues' entstand, das sich nicht einfach als westdeutsch, britisch, französisch oder als US-amerikanisch, sondern als 'westlich' bzw. 'westeuropäisch' charakterisieren lässt" (220).
Zu diesen Produkten gehörte neben Schallplatten auch eine neue Jugendmode, die für Katja Marmetschke allerdings "gleichermaßen von amerikanischen wie europäischen Einflüssen geprägt" ist, wie sie anhand der Adaption des britischen Mod-Stils durch bundesdeutsche Versandhäuser zeigt, die ab 1968 "den Minirock bis in die Provinz brachte[n]" (263). Auch die bislang kaum erforschten Schweizer "Halbstarken" erscheinen im Band als Mitgestalter eines "gemeinsamen, transnational-europäischen Erfahrungsraumes", wie Katharina Böhmer ausführt (246). Zu einem ähnlichen Befund kommt Christian Henrich-Franke beim Programmaustausch im Fernsehen: die Rudi-Carell-Show etwa wurde von amerikanischen und britischen Formaten inspiriert, in den Niederlanden produziert und in 14 Staaten Europas ausgestrahlt.
Die Frage nach der politischen Relevanz der untersuchten Phänomene über die "Eigenlogiken" kulturindustrieller Produktion und konsumgesellschaftlicher Formation hinaus beantworten vor allem drei Beiträge. Marcel Kabaum zeichnet anhand der bislang wenig beachteten bundesdeutschen Schülerzeitungen ein "janusköpfiges Bild" zwischen popkultureller Amerika-Begeisterung und späterer Amerika-Kritik unter dem Eindruck des Vietnamkrieges. Kaspar Maase, dem als Pionier der historischen Popkulturforschung [4] in Deutschland gewissermaßen ein Ehrenplatz im Band zukommt, vergleicht am bundesdeutschen Beispiel zwei zeithistorische Erklärungsmuster: auf der einen Seite die "von außen" kommenden Einflüsse unter Stichworten wie Amerikanisierung (Maase, Siegrist, Poiger) und Westernisierung (Doering-Manteuffel) und andererseits die u.a. von Axel Schildt (†) und Detlef Siegfried betonten Prozesse populärkultureller Modernisierung, Partizipation und Liberalisierung. Maase plädiert in seinem Theorie-Beitrag für die Verbindung beider Ansätze, um den "weithin kontingente[n] Bedeutungszuweisungen" auf die Spur zu kommen, die viele Produkte erst politisch wirksam machten (292). Im diesem Sinne spricht auch Dietmar Hüser in seinem Beitrag zum bundesrepublikanischen "Demokratiewunder" von einer Fremd-, Selbst- und Habitus-Politisierung, die sich im "Verändern gesellschaftlicher Orientierungsmuster und Erwartungshaltungen" gezeigt habe (307, 320). Auch er möchte die bisher zugunsten Amerikas ausfallende "Verflechtungsbilanz" relativieren.
Zieht man diese Bilanz nach Lektüre des aufgrund seiner neuen Schwerpunktsetzungen richtungsweisenden Bandes, so neigt sie ganz überwiegend einer Europäisierung zu. Ob allerdings mit nach Europa zurückverschobenen Grenzen auf der imaginären historiographischen Landkarte für die transnationale Geschichte so viel gewonnen wäre, bleibt zu diskutieren. Auf Ebene der Transnationalisierung, wie sie sich in Produktions- und Konsumverflechtungen zeigt, mag man solche Räume kartographieren, die je nach Gegenstand mal nach Italien und mal bis nach Argentinien reichen (und damit nicht allzu deutlich konturiert wären). Untersucht man aber die darin gehandelten Produkte qualitativ, so wird man (wie etliche Autoren des Bandes) feststellen, dass ihnen die vielfältigsten transnationalen Traditionen eingeschrieben sind: Die "amerikanische" Jeans wurde von einem deutschen Auswanderer auf den Markt gebracht, manch "französischer" Chanson nimmt einen südosteuropäischen Rhythmus auf und das "englische" Minikleid zeigt ein asiatisches Motiv.
Ein wirklich transnationales Kulturverständnis könnte daher dazu führen, Abstand von neuen großräumlichen Grenzziehungen zu nehmen, wie sie auch übernationale Kategorien wie Amerikanisierung, Westernisierung und Europäisierung notwendig betreiben. Da der Herausgeber mittlerweile eine Forschergruppe zur "Populärkultur transnational" mit westeuropäischem Schwerpunkt leitet [5], die Fragen des vorliegenden Bandes monographisch vertiefen wird, darf man gespannt sein, welcher Weg hier künftig eingeschlagen wird.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Pascal Goetschel / François Jost / Myriam Tsikounas (éds.): Lire, voir, entendre. La réception des objets médiatiques, Paris 2010.
[2] Vgl. Alexander Simmeth: Krautrock transnational. Die Neuerfindung der Popmusik in der BRD, 1968-1978, Bielefeld 2016.
[3] Vgl. Aline Maldener / Clemens Zimmermann (Hgg.): Let's Historize It! Jugendmedien im 20. Jahrhundert, Wien u.a. 2018.
[4] Vgl. Kaspar Maase: Bravo Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren, Hamburg 1992.
[5] Mit Andreas Fickers, Sonja Kmec, Benoît Majerus, Christoph Vatter und Clemens Zimmermann. Vgl. online: https://www.c2dh.uni.lu/news/popkult60-closer-look-popular-culture-europe-over-long-decade-1960s
Dietmar Hüser (Hg.): Populärkultur transnational. Lesen, Hören, Sehen, Erleben im Europa der langen 1960er Jahre (= Histoire; Bd. 82), Bielefeld: transcript 2017, 356 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-8376-3133-3, EUR 34,99
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