Nun liegt innerhalb von nur wenigen Jahren ein zweiter Tagungsband zum 1613 gegründeten Hamburger Akademischen Gymnasium vor. [1] Bei dieser Institution handelte es sich um ein typisches Beispiel eines Gymnasium Illustre. Dieser zwischen Universität und Lateinschule angesiedelte Schultypus entstand vor allem im Laufe des Konfessionellen Zeitalters und war bis weit ins 18. Jahrhundert hinein sehr einflussreich. Genau diese Tatsache, dass nämlich viele Akademische Gymnasien im Laufe ihrer Entwicklung mal Universitätsersatz, mal bessere Lateinschulen waren, macht eine exakte typologische Einordnung auch so schwierig. Dabei ist freilich darauf hinzuweisen, dass es bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts ohnehin keine scharfe institutionelle Trennung zwischen Universitäten und großen, mehrklassigen städtischen Lateinschulen gab - abgesehen von fehlenden Möglichkeiten, akademische Grade verleihen zu dürfen. Vor der verpflichtenden Einführung und Durchsetzung des Abiturs als Hochschulzugangsberechtigung konnte man in der Regel gleichermaßen sowohl an den Philosophischen Fakultäten als auch in den oberen Lateinschulklassen grundlegendes gelehrtes Wissen erwerben und die üblichen akademischen Praktiken, wie etwa das Disputieren, erlernen. Folglich konkurrierten Akademische Gymnasien um dieselbe Besucherklientel wie Philosophische Fakultäten an Universitäten. In Hamburg gab es zudem seit 1613 nebeneinander eine - im Jahre 1529 noch auf Anregung Philipp Melanchthons gegründete und noch heute bestehende - Lateinschule, das Johanneum, welches nicht mit dem Akademischen Gymnasium verwechselt werden darf, wie Rainer Postel (45-60) betont.
Akademische Gymnasien wurden überwiegend in einer Phase der (spät-)humanistischen Bildungsexpansion an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert durch Magistrate von Reichsstädten beziehungsweise von Hansestädten oder autonomen Städten gegründet - durchaus mit dem Ziel, die Bürgersöhne entweder auf den Besuch auswärtiger Universitäten vorzubereiten oder aber ihnen ein kostengünstiges, aber grundlegendes Studium in ihren Heimatstädten zu ermöglichen. Entsprechend gering waren auch meist deren regionale Einzugsbereiche, so auch in Hamburg. Dies soll freilich nicht heißen, dass solche eher lokalen Bildungsinstitutionen keine wissenschaftliche Ausstrahlung hatten - im Gegenteil: Am Beispiel Straßburgs zeigt Anton Schindling nicht nur den "Prototyp des evangelischen Gymnasium illustre" auf, sondern auch die Weiterentwicklung dieser "Semi-Universität" zu einer vollwertigen reichsstädtischen Universität (61-85). Der konzise Überblick über die Geschichte des bedeutenden Akademischen Gymnasiums in Thorn von den Anfängen bis zu den Teilungen Polens, den Joanna Kodzik vorlegt (455-475), und der Beitrag zum vergleichsweise spät gegründeten markgräflichen Akademischen Gymnasium und der Schulzeit des Dichters Johann Peter Hebel von Johann Anselm Steiger (477-492) vermitteln weitere Bausteine für eine erst noch zu schreibende Geschichte dieser einflussreichen frühneuzeitlichen Bildungsanstalten. Insgesamt erfährt der Typus der Gymnasia Illustria eine grundlegende Würdigung als "Agenturen literarischer und kultureller Innovation in der Frühen Neuzeit" im komparatistisch angelegten Beitrag von Klaus Garber (21-44). Er verweist auch auf das besondere Lehrangebot, dessen Schwerpunkt auf dem im 16. Jahrhundert klassischen humanistischen Fächerkanon lag, was gerade zur besonderen Attraktivität des Hamburger Akademischen Gymnasiums beigetragen habe.
Freilich können in einem Tagungsband nicht erschöpfend die vielfältigen gelehrten Disziplinen, die namhaften gelehrten Professoren und deren Netzwerke dargestellt werden. Die zahlreichen, im vorliegenden Band versammelten wissenschafts- und gelehrtengeschichtliche Beiträge zeichnen zwar ein lebhaftes Bild von den am Hamburger Akademischen Gymnasium betriebenen Studien, aber insgesamt erscheint die Auswahl der Beiträge nicht ganz kohärent. So fehlt zum Beispiel mit dem langjährigen Rektor Joachim Jungius ein besonders herausragender Hamburger Gelehrter, wohingegen der Polyhistor Michael Richey gleich zweimal im Zentrum von Aufsätzen steht: Bernhard Jahn würdigt ihn als Kasualdichter (217-231), Ingrid Schröder seine Rolle bei der 1715 gegründeten Sprachsozietät der Teutsch-übenden Gesellschaft (195-216). Einen erkennbaren Schwerpunkt im Band nimmt auch die Hebraistik und - disziplinär eng damit verbunden - die Orientalistik ein: Hervorzuheben sind die parallel angelegten Überblicksdarstellungen von Stephen G. Burnett über die Hebräisch-Studien (103-117) und von Asaph Ben-Tov über die Orientalischen Studien (119-135) - jeweils bis zur Berufung von Hermann Samuel Reimarus (1727). Reimarus selbst und sein Umfeld stehen im Focus zweier Beiträge: zum einen bei Sven Grosse als Vertreter der Physiko-Theologie - neben Johann Albert Fabricius und Barthold Heinrich Brockes - (319-339), zum anderen exemplarisch bei Almut Spalding über die, mittlerweile auch von der universitätsgeschichtlichen Forschung als Forschungsgegenstand erkannte Bedeutung von Frauen im sozialen Netzwerk höherer Bildungsinstitutionen (341-358). Claudia Schindler bietet einen Überblick über die klassischen Latein- und Griechisch-Studien - mit einem Schwerpunkt im 18. und frühen 19. Jahrhundert - (163-180). Zu den bedeutendsten Hamburger Professoren gehörte auch der von Martin Mulsow vorgestellte Philosoph und Literaturwissenschaftler Vincent Placcius, der in seinem Werk "Theatrum anonymorum et pseudonymorum" aus dem Jahre 1708 Autoren anonym verfasster Werke nachspürte (87-101). Verwiesen sei ferner auf die Beiträge von Ulrich Groetsch über den orthodox lutherischen Streittheologen Sebastian Edzardus (137-161) und von Peter Fischer-Appelt über den Gründer der Hamburger Handelsakademie Johann Georg Büsch (305-318) sowie zur Korrespondenz des Hauptpastors Johann Dietrich Winckler mit Moses Mendelssohn von Ferdinand Ahuis (359-376). Carola Piepenbring-Thomas stellt Ergebnisse eines Forschungsprojekts über den bedeutenden Nachlass und die Bibliothek des Arztes Martin Fogel vor, die von Leibniz aufgekauft wurden (233-266). Insgesamt betont Axel E. Walter, dass nicht nur in Hamburg die Bibliotheken Akademischer Gymnasien nur von begrenztem Umfang gewesen seien (401-435).
Dass sich vor den Hintergrund des massiven Ausbaus der philosophischen Disziplinen an Universitäten im 19. Jahrhundert der ältere Typus des Akademischen Gymnasiums überlebt hatte, ist nicht nur für Hamburg konstatiert worden. Dass es im Vormärz dennoch auch Reformversuche gab, zeigt der Beitrag von Dirk Brietzke am Beispiel des Historikers Christian Friedrich Wurm (377-399), wenngleich der Niedergang - erkennbar an der stets rückläufigen Schülerfrequenz - nicht mehr aufzuhalten war. Im Jahre 1883 wurde das Akademische Gymnasium schließlich aufgehoben. Mit dem vorliegenden Tagungsband und dem oben genannten Sammelband von 2013 liegen nunmehr wichtige Studien zum Hamburger Akademischen Gymnasium vor, auf deren Grundlagen in Zukunft weitergearbeitet werden kann. Dabei ist deutlich geworden, dass die Hansestadt über eine weitaus längere akademisch-gelehrte Tradition verfügt, als das dieses Jahr groß gefeierte hundertjährige Jubiläum der Universität in Hamburg nahelegt.
Anmerkung:
[1] Dirk Brietzke / Franklin Kopitzsch / Rainer Nicolaysen (Hgg.), Das Akademische Gymnasium. Bildung und Wissenschaft in Hamburg 1613-1883, Berlin / Hamburg 2013.
Johann Anselm Steiger (Hg.): Das Akademische Gymnasium zu Hamburg (gegr. 1613) im Kontext frühneuzeitlicher Wissenschafts- und Bildungsgeschichte (= Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext; Bd. 207), Berlin: De Gruyter 2017, 503 S., 6 Tbl., 41 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-052624-0, EUR 99,95
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