Eberhardine Christiane Lotter machte sich im Jahr 1786 allein auf eine lange und beschwerliche Fahrt aus dem württembergischen Herrenberg nach Charleston in South Carolina, wohin ihr Ehemann einige Jahre zuvor ausgewandert war. Vor Antritt ihrer Reise hatte sie die drei gemeinsamen Kinder in die Obhut von Verwandten gegeben. Nachdem sie sich zu Fuß, per Kutsche und mit dem Schiff bis nach Rotterdam durchgeschlagen und dabei eine Reihe von Bekanntschaften geschlossen und abenteuerliche Situationen durchlebt hatte, bestieg sie ein Schiff nach Philadelphia. Es folgen eine eindrückliche Schilderung ihrer Seefahrt über den Atlantik und entlang der Ostküste der Vereinigten Staaten sowie anschließend unterschiedliche Erlebnisse mit Württembergern in der Neuen Welt. Dramaturgischer Höhepunkt des Berichts ist das Zusammentreffen mit ihrem Ehemann, der sich in Amerika bereits eine neue Existenz aufgebaut hatte (65). Vor die Wahl gestellt, ob sie bei ihm bleiben oder - gegen den ausdrücklichen Willen des Gatten - allein zu ihren Kindern zurückkehren sollte, entschied sich Eberhardine Christiane Lotter nach einem rund dreimonatigen Aufenthalt in Charleston für die Rückreise. Sie erreichte das heimatliche Herrenberg im Mai 1787, knapp ein Jahr nach ihrem Aufbruch. Ihre Kinder hatte man unterdessen glauben lassen, die Mutter sei auf dem Meer umgekommen und von Fischen gefressen worden (93).
Der faszinierende Bericht wirft Schlaglichter auf das Mobilitätsverhalten alleinreisender Frauen innerhalb mehrheitlich männlich dominierter Migrationsstrukturen, auf weibliche Kommunikationsnetze und auf die lebensweltliche Normalität der Amerikaauswanderung in Südwestdeutschland ausgangs des 18. Jahrhunderts. Zudem bietet er reiche Reflexionen über Abschiednehmen, Zurückbleiben und Ankommen und über unterschiedliche emotionale Zustände unterwegs - von Kinderliebe über Angst und Heimweh bis zu Trauer und Freude (vgl. 37f., 70-72 und passim). Ein wichtiges Leitmotiv des Reiseberichts ist, Eberhardine Christiane Lotter als tugendsame, verantwortungsbewusste Akteurin erscheinen zu lassen (vgl. 15, 18, 69 und passim). Damit grenzt sie sich als Person nicht allein vom Lebenswandel ihres Gatten ab, sondern rechtfertigt zugleich ihre Reise als legitime Option selbstständigen Handelns - eine Reise, die offensichtlich mehr war (oder darstellen sollte) als nur eine Grenzüberschreitung in geografischer Hinsicht. Auch dank göttlicher Führung erreicht sie ihre alte Heimat gleichsam als neuer Mensch (90).
Die vorliegende Niederschrift des Berichts ist offenbar viele Jahre nach der Reise unter Einfluss eines Geistlichen entstanden; anschließend wurde der Text - wohl mit Blick auf eine Publikation - noch weiter bearbeitet. Die Reise selbst war der Forschung nicht gänzlich unbekannt, doch lag ihr Bericht bisher nur in unbefriedigenden (Teil-) Abdrucken vor. Die nun präsentierte, kommentierte Neuedition macht mit rund 80 Seiten ein gutes Drittel des vorliegenden Buches aus; der Rest entfällt auf die Kontextualisierung des Quellentextes einschließlich umfangreicher Quellen- und Literaturverzeichnisse sowie eines Registers.
Für die Kommentierung und historische Einordnung des Berichts haben die Herausgeber einen bemerkenswerten Rechercheaufwand auf beiden Seiten des Atlantiks betrieben. In einem etwa 130 Seiten umfassenden "Nachwort" - deutlich länger als die eigentliche Edition - wird die Reise nach Charlestown hervorragend und genauestens kontextualisiert: vom lokalen Umfeld in Herrenberg einschließlich der Familienbeziehungen der Protagonistin und ihrer Wirtschaftsverhältnisse über die Reiseumstände und die Situation in Nordamerika bis hin zur multiethnischen Gesellschaft in Charleston und den Lebensumständen des Gatten. Die Kontextkapitel sind ausgezeichnet lesbar und lassen sich in Verbindung mit der Quelle als eigenständiger Forschungsbeitrag ebenso verstehen wie als universitäre Seminarlektüre verwenden - die politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in der Neuen Welt, die im Lotter'schen Bericht eine nicht unwesentliche Rolle spielen, werden eher knapp abgehandelt.
Angesichts des hohen Anspruchs des Herausgeberteams, die Plausibilität oder sogar Authentizität der geschilderten Erlebnisse Eberhardine Christiane Lotters nachzuweisen (vgl. 224-227), kommt eine quellenkritische Analyse der narrativen Komposition des Berichts insgesamt vielleicht eher zu kurz. Die Funktion des Textes in Bezug auf ein wie immer geartetes (und nicht definitiv eingrenzbares) intendiertes Publikum - und damit auch die rhetorische Funktionalisierung bestimmter Erlebnisse - stehen nicht im Zentrum des Interesses der KommentatorInnen. Zum Verständnis der Quelle dürfte eine solche Perspektive aber nicht ganz unwesentlich sein. Dies betrifft zum Beispiel die im Bericht und Kommentar prominent präsentierte Episode einer Begegnung Eberhardine Christiane Lotters mit einer Delegation dreier Indigener ("Indianer") in Charleston, die in Dreikönigsmanier, einschließlich "Mohrenkönig" (66-69), am dritten Weihnachtstag vor ihr stehen. Möglicherweise wurde diese Geschichte, wie auch die Herausgeber vermuten, als gleichsam konstitutiver Bestandteil eines Reiseberichts aus der Neuen Welt dazuerfunden, um auch die indigene Bevölkerung zu Wort kommen zu lassen (vgl. 219f.); vielleicht ist Eberhardine Christiane Lotter wirklich auf eine Gruppe von Native Americans getroffen, doch in funktionaler Perspektive spielt dies letztlich keine Rolle. So legt die Protagonistin diesen - als 'edle Wilde' konstruierten - Männern nämlich die Aussage in den Mund, man habe "ein so seltenes, wunderbares Weib" sehen wollen, "das ihrem Manne zu lieb eine so weite Reise zu unternehmen fähig sei" (68; vgl. 214). Gegenüber einer heimischen Leserschaft dienen die Indigenen somit als Zeugen der rechtschaffenen Reisemotivation Eberhardine Christiane Lotters; konsequenterweise schlägt sie die Einladung des "Mohrenkönigs", "mit ihm in sein Land zu ziehen" (69), aus. Unabhängig von der Frage nach dem vermeintlichen Wahrheitsgehalt solcher Einschübe erfüllen derartige Episoden jedenfalls zweifellos bestimmte Funktionen für das Narrativ und für die Selbstdarstellung Eberhardine Christiane Lotters - als starke, ehrbare und tugendsame Frau.
Diese und andere Episoden legen vielfältige weitergehende Interpretationsmöglichkeiten nahe; so etwa auch im Hinblick auf eine intendierte Leserschaft unter potenziellen (männlichen wie weiblichen) Auswanderern im württembergischen Umfeld. Insgesamt handelt es sich jedenfalls bei dieser überaus ansprechend präsentierten und reich bebilderten Quellenpublikation um den bemerkenswerten Bericht einer alleinreisenden Frau ausgangs des 18. Jahrhundert, der nun in vorbildlicher Edition vorliegt.
Katharina Beiergrößlein / Jürgen Lotterer (Hgg.): Die Reise der Frau Lotter aus Herrenberg nach America in den Jahren 1786 bis 1787 (= Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Stuttgart; Bd. 112), Heidelberg / Ubstadt-Weiher / Basel: verlag regionalkultur 2019, 272 S., 4 Kt., 24 Farbabb., ISBN 978-3-95505-132-7, EUR 22,00
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