sehepunkte 20 (2020), Nr. 2

Heinrich Speich: Burgrecht

Das scheinbar leicht verständliche Wort Burgrecht meint im späten Mittelalter nicht, wie man auf den ersten Blick vermuten könnte, das auf einer Burg geltende Recht, sondern fand seine eigentliche Anwendung vornehmlich im städtischen Rechtskontext. Die Vielfalt des so bezeichneten Phänomens zu untersuchen, ist Ziel der unter der Betreuung von Prof. Regula Schmid Keeling entstandenen und 2014 an der Universität Freiburg/Schweiz angenommenen Dissertation von Heinrich Speich. Er hebt darin zwei wesentliche Bedeutungsaspekte hervor: 'Burgrecht' bezeichnet, zumindest im oberdeutsch-eidgenössischen Raum des 13. bis 15. Jahrhunderts, sowohl jede städtische Einbürgerung unter Sonderkonditionen (33) als auch den darüber abgeschlossenen Vertrag, mithin Urkunden als zeitlich befristete Rechtsinstrumente (17). Da oft auch zwei Städte miteinander Burgrechtsverträge schlossen, konnten diese den Charakter von bilateralen Bündnissen annehmen, deren politische Funktionen die einer Einbürgerung bei weitem übertrafen (17). Speich betont, "dass Burgrechte in ihrer Wandelbarkeit immer wieder die eigenen Definitionen und Deutungen konterkarieren. Sie sind Produkte und Ausdruck von Beziehungen, die sich stetig wandelten und selbst durch ihre Existenz diesen Wandel beförderten" (48).

Die Vielfalt des Burgrechtsbegriffs sowie der Funktionen dieser Verträge hat bisher weder die deutsche noch die schweizerische Forschung vor Speich hinreichend berücksichtigt. So verstand Eberhard Isenmann das Wort in seinem Standardwerk zur deutschen (!) Stadt im Mittelalter noch 2012 vornehmlich als ein Synonym für "Bürgerrecht". [1] Freilich war das Burgrecht bisher nur vergleichsweise selten ein Thema der Reichs- und deutschen Landesgeschichte (49). Seine größte Wirksamkeit entfaltete das Phänomen in der schweizerischen Eidgenossenschaft des späten Mittelalters (39, 44). Diese regionale Differenzierung erweist sich somit als wesentlich.

Speich beklagt, dass Burgrechte von Rechtshistorikern und Hilfswissenschaftlern "bislang meist als statisch wahrgenommen" wurden (19) und man sie "in ein starres Deutungsschema" presste (18). Burgrechte waren seiner Ansicht nach indes vielmehr "Instrumente der Duchlässigkeit" (18). Daher geht es in seiner Studie darum, "Näherungsmodelle zu schaffen, die der Vielgestaltigkeit des Phänomens Burgrecht in den Kernregionen seines stärksten Gebrauchs gerecht werden" (18). Dabei bedient sich Speich des "Konzept[s] der Kulturgeschichte des Politischen", rückt die Verträge als politische Instrumente in den Mittelpunkt und analysiert, "wie sich diese entwickelten und auswirkten" (21). "Untersucht wird dadurch der Wandel des Burgrechts als Begriff und Phänomen: von einem Instrument der Einbürgerung zu einem Mittel politischer Durchsetzung" (21).

Heinrich Speich betrachtet Burgrechte nach einem einleitenden Kapitel, in dem er sein Forschungsinteresse, die Fragestellung, den methodischen Ansatz und die Quellenlage erläutert (15-30), im Wesentlichen unter drei Aspekten: Erstens beleuchtet er den facettenreichen Begriff, indem er dessen Entstehung, Forschungsgeschichte und -stand behandelt (31-74). Zweitens nimmt er die Funktionsweisen von Burgrechten in den Blick. Dabei stellt er die Beteiligten vor - es waren neben Städten in erster Linie Adelige, Kirchen, Klöster und Klerus, ländliche Kommunen und "Sondergruppen" wie Frauen, Juden, Lombarden und spezialisierte Handwerker - und benennt deren spezifische handlungsleitende Interessen (75-129). Anschließend untersucht er die "Wege zur Urkunde" und die Inhalte der Burgrechte, also dort festgelegte Vorbehalte und Hilfsverpflichtungen, fiskalische Bestimmungen, ferner die Abgrenzungen der Rechtsbezirke, die Rolle der Schiedsgerichte sowie Laufzeit und Erneuerung (130-174). Drittens schildert er einlässlich Entstehung und Wirkung der Verträge anhand von vier Beispielen der eidgenössischen Geschichte: a) den zwischen Freiburg/Schweiz und Bern geschlossenen Burgrechten, b) den Verträgen zwischen Bern, Saanen und den Grafen von Greyerz, c) dem Burgrechtskonflikt im Wallis von 1419 sowie d) dem sogenannten Alten Zürichkrieg (175-264). Mit Ausblicken, der Zusammenfassung der Ergebnisse, mit einem umfangreichen Quellen- und Literaturverzeichnis, einem Quellenanhang, qualitätvollen Abbildungen, Tabellen sowie einem Orts-, Sach- und Personenindex rundet Speich seine Darstellung ab (265-419).

Wie der Überblick über den Inhalt der Dissertation zeigt, umkreist der Verfasser sein facettenreiches Thema gewissermaßen und nähert sich ihm auf verschiedenen Wegen immer wieder. Das ist dem Phänomen der Burgrechte zweifellos angemessen. Allerdings benötigt er dafür einen langen Anlauf (Vorwort 13 f., Einleitung 15-30 sowie Begriffsklärung 31-74) und bietet den Leserinnen und Lesern erst en passant handhabbare Arbeitsdefinitionen des Gegenstands (13, 17, 33). Weitere definierende Ansätze folgen als "Näherungswerte" je nach Aspekt auch später noch (33-37, 81-84 und 171-174). Noch auf Seite 40 fragt er: "Was war denn nun ein Burgrecht? Eine innerstädtische Angelegenheit, in der die Stadt einen neuen Bürger aufnahm [...]? Oder war es ein politisches Bündnis, welches im Zweifelsfall die Rechte der Bündnispartner tangierte?". Ein solches Vorgehen fordert von den Leserinnen und Lesern ein hohes Maß an Aufmerksamkeit - und Geduld.

Die vielfältige Betrachtungsweise ist Stärke und (geringe) Schwäche zugleich. Denn die systematische und differenzierte Anlage bringt gelegentliche Wiederholungen mit sich (z. B. 143, 274). Das ungemein fakten- und aspektreiche Kapitel "III. Funktionsweisen" (75-174) weist in seiner klaren, aber kleinteiligen Strukturierung geradezu Handbuchcharakter auf. Es ist gleichwohl gut lesbar, bietet aber kaum klassisch erzählte Abschnitte. Dass historische Fallbeispiele hier lediglich in strenger und auf die Argumentation bezogener Auswahl zur Sprache kommen, liegt in der Natur dieser Textanlage. Beeindruckend sind die einlässlich interpretierten, exemplarischen Studien zu den genannten vier Ereigniskomplexen der eidgenössischen Geschichte (175-264). Am Ende fügen sich die zahlreichen dargestellten Gesichtspunkte in der sehr hilfreichen Zusammenfassung zu einer, in ihrer Differenzierung beeindruckenden Gesamtschau (273-286).

Die von Heinrich Speich vorgelegte Dissertation stellt eine fundierte Vertrautheit sowohl mit dem klassischen methodischen "Handwerkszeug des Historikers" als auch dem aktuellen Instrumentarium der Neuen Kulturgeschichte des Politischen unter Beweis. Die anspruchsvolle Arbeit erfüllt die Ansprüche, die in der Einleitung an sie gestellt werden. Aufmerksame Leserinnen und Leser gewinnen Einsichten und Erkenntnisse, deren Weite und Tiefe sie so in der bisherigen Forschung nicht finden konnten.


Anmerkung:

[1] Eberhard Isenmann: Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150-1550, Wien / Köln / Weimar 2012, 133.

Rezension über:

Heinrich Speich: Burgrecht. Von der Einbürgerung zum politischen Bündnis im Spätmittelalter (= Vorträge und Forschungen; Sonderband 59), Ostfildern: Thorbecke 2019, 419 S., 4 Tbl., 12 Farbabb., ISBN 978-3-7995-6769-5, EUR 52,00

Rezension von:
Stefan Pätzold
Stadtarchiv Bochum
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Pätzold: Rezension von: Heinrich Speich: Burgrecht. Von der Einbürgerung zum politischen Bündnis im Spätmittelalter, Ostfildern: Thorbecke 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 2 [15.02.2020], URL: https://www.sehepunkte.de/2020/02/33476.html


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