Von Oktober 2019 bis Februar 2020 war die Alte Pinakothek in München der Schauplatz einer sensationellen Ausstellung zum flämischen Barockmaler Anthonis van Dyck. Im Fokus der Schau stand der umfangreiche Eigenbestand der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen an Werken van Dycks, der normalerweise auf mehrere Galerien in Bayern aufgeteilt ist. Ergänzt wurde dieser durch zahlreiche hochkarätige Leihgaben aus dem Ausland. Bei der überwiegenden Mehrzahl der ausgestellten Arbeiten handelte es sich um unumstrittene eigenhändige Werke des Künstlers, darunter auch mehrere Hauptwerke. Da der Kuratorin Mirjam Neumeister aber auch die Vermittlung von Händescheidungsproblemen und Fragen, welche die Arbeitsteilung und Funktionsweise der Werkstatt van Dycks betreffen, ein wichtiges Anliegen war, waren auch einige Werkstattarbeiten zu sehen. Außerdem waren mehrere Arbeiten von Peter Paul Rubens und ein Gemälde von Tizian ausgestellt - sie sollten verdeutlichen, dass diese beiden Künstler bei der Herausbildung von van Dycks Stil eine wesentliche Rolle spielten. Begleitet wurde die Ausstellung von einem über 400-seitigen Katalog mit zahlreichen perfekten Reproduktionen, in dem die Ergebnisse eines mehrjährigen umfangreichen Forschungsprojekts zu van Dyck präsentiert werden. Das Ziel dieses Projekts war es, einen genaueren Einblick in den Schaffensprozess bei van Dyck zu gewinnen. Dabei stand die durch technische Untersuchungen gestützte Analyse der Werkgenese im Vordergrund.
In ihrem einleitenden Essay gibt Mirjam Neumeister einen Überblick über van Dycks Leben, Werk und die wichtigsten Erkenntnisse des Münchner Forschungsprojekts. Anhand der Gegenüberstellung von Der trunkene Silen von Rubens und van Dyck erklärt die Autorin, dass Rubens für den Künstler zwar zunächst der wichtigste Orientierungspunkt war, aber dennoch bereits beim jugendlichen van Dyck ein sehr eigenständiger Stil erkennbar ist (23). Dies ließ sich fast noch besser am berühmten Selbstbildnis aus der Wiener Akademie-Galerie beobachten, das van Dyck im Alter von nur 16 Jahren malte. Der Vergleich von zwei Versionen von Christus und der Lahme dokumentiert überdies, dass van Dyck seine Kompositionen schrittweise weiterentwickelte, indem er bei neuen Fassungen immer wieder einzelne Details modifizierte. Unverkennbar ist hier der Einfluss der venezianischen Kunst, die der Künstler vermutlich schon vor seinem Italienaufenthalt in Kunstsammlungen studieren konnte. Zwei gezeichnete Kompositionsentwürfe zu diesen Gemälden belegen zudem, dass van Dyck seine Werke durch zahlreiche Entwurfszeichnungen und gemalte Detailstudien vorbereitete. Diese letztendlich auf die italienische Kunst zurückführbare Praxis hatte der junge Flame wohl bei Rubens gelernt. Ungefähr gleichzeitig entstand eine Gruppe von Studienköpfen, die Christus und die Apostel zeigen. Allerdings dürfte es sich bei ihnen nicht um eigenhändige Arbeiten handeln - sie bezeugen, dass van Dyck bereits als sehr junger Künstler eine Art Betrieb führte, in dem mehrere wechselnde Mitarbeiter tätig waren.
In den frühen 1620er-Jahren lebte der Maler in mehreren italienischen Städten. Zu dieser Zeit entfernte er sich stilistisch immer mehr von Rubens und orientierte sich vor allem an Tizian und Veronese. Dies gilt auch für Susanna und die beiden Alten, ein Gemälde, das zurecht als ein Höhepunkt seiner frühen Historienmalerei angesehen wird. Bezeichnend ist hier laut Neumeister die Interpretation der biblischen Geschichte als ein psychologisch vertieftes, menschliches Drama (33). Nach seiner Rückkehr aus Italien malte der Künstler jedoch fast ausschließlich Porträts. Aufgrund seines hohen Einfühlungsvermögens und seiner daraus resultierenden Fähigkeit, die individuelle Persönlichkeit zu erfassen, war er für diese Laufbahn geradezu prädestiniert. Charakteristisch ist für van Dycks Bildnisse ferner, dass seine Modelle bei allem repräsentativen Aufwand niemals der Natürlichkeit entbehren. Am eindrucksvollsten sind sicherlich seine Selbst- und Künstlerbildnisse wie das Selbstbildnis der Alten Pinakothek oder das Porträt des Bildhauers Georg Petel, in dem die freundschaftliche Beziehung und emotionale Nähe zwischen Maler und Modell zum Tragen kommt. 1632 wurde van Dyck an den englischen Hof berufen, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1641 wirkte und wichtige Grundlagen für die englische Porträtmalerei des 18. Jahrhunderts legte.
Die technischen Untersuchungen, die im Zuge des Münchner Van-Dyck-Projekts durchgeführt wurden, führten zu mehreren Zu- und Abschreibungen. So konnte etwa das Porträt von Wilhelm van Pfalz-Neuburg, das zuvor als Werkstattarbeit galt, in die Kerngruppe der eigenhändigen Arbeiten eingeordnet werden. Vor allem aber wurde klar, dass der Maler seine Werke trotz sorgfältiger Vorbereitung durch Entwürfe und Detailstudien auch während der malerischen Ausführung häufig korrigierte und bis zum Schluss mit seinen Kompositionen rang. Als Bildträger verwendete van Dyck sowohl Holz als auch Leinwand, weshalb im Rahmen des Projekts auch systematische dendrochronologische Untersuchungen und Faserbestimmungen durchgeführt wurden. Ungeklärt ist jedoch, was in konkreten Fällen die Gründe für die Wahl eines bestimmten Materials waren. Detaillierte Unterzeichnungen lassen sich bei keinem Gemälde van Dycks nachweisen. Die Grundzüge der Komposition wurden mit wenigen Pinselzügen festgelegt, wobei Teile dieser groben Skizze manchmal mit freiem Auge erkennbar sind. Durch den Vergleich von Umzeichnungen konnte zudem nachgewiesen werden, dass bei der schrittweisen Weiterentwicklung seiner Kompositionen eine nicht genauer bestimmbare Paustechnik zum Einsatz kam.
Hervorzuheben ist ferner auch der Beitrag Julia Thomas über die Entstehung der Münchner Van-Dyck-Sammlung, denn die große Fülle an Werken dieses Malers verdankt die Alte Pinakothek der Sammelleidenschaft zweier rivalisierender Vettern aus dem Haus Wittelsbach: Kurfürst Johann Wilhelm von Pfalz-Neuburg (1658-1716) und Kurfürst Maximilian II. Emanuel von Bayern (1662-1726). Von der großen Zahl an Werken, die sie zusammentrugen, gelten heute noch 24 als eigenhändige Arbeiten von Dycks. Ihre Sammlungen wurden 1806 vereint, nachdem 1724 mit der Wittelsbacher Hausunion die Erbfolge der Dynastie der Wittelsbacher neu geregelt worden war. Es ist faszinierend, Thomas Ausführungen zu folgen, in denen sie darlegt, dass der Besitz von Werken van Dycks für diese beiden Kurfürsten nicht nur ein Statussymbol war, sondern vor allem auch umfangreiche Geldmittel, gute Netzwerke und damit Macht illustrierte.
Den Hauptteil der Publikation bildet der von Mirjam Neumeister verfasste Katalog der Werke von Anthonis van Dyck und seiner Werkstatt in den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen. Hierbei handelt es sich aber eigentlich nur um die Katalogtexte. Angaben zu Provenienz und Literatur wurden in den Anhang ausgelagert, der neben einem Verzeichnis von Van Dycks Werken in Bayern auch einen Kurzkatalog der Leihgaben enthält. Neumeister analysiert hier ausführlich die Werke, wobei der Schwerpunkt auf stilkritischen Beobachtungen und den Ergebnissen der technischen Untersuchungen liegt, die viele Schlüsse auf die Entstehung der Arbeiten und den kreativen Prozess bei van Dyck erlauben. Doch obwohl die Texte recht lang sind und zahlreiche brillante Bildanalysen bieten, enthalten sie kaum Informationen über die Forschungsgeschichte der Werke beziehungsweise bisherige Forschungsmeinungen. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund, dass es häufig um Händescheidungsfragen geht, nicht optimal. Der Hauptgrund dafür war sicherlich Platzmangel, aber einem Leser, der kein Van-Dyck-Spezialist ist, wird dadurch die Meinungsbildung leider erschwert. Was die beiden angehängten Verzeichnisse angeht, die unter anderem von Fabian Pius Huber bearbeitet wurden, ist anzumerken, dass sie selten Angaben zu neuerer und neuester Literatur seit etwa 2010 enthalten.
Dies sind jedoch nur wenige unwesentliche Kritikpunkte. Insgesamt ist Neumeister und ihrem Team eine äußerst beeindruckende Publikation gelungen, die eine große Fülle an Informationen und neuen Erkenntnissen bietet. Aus diesem Grund ist sie als ein fundamentaler Beitrag zur Van-Dyck-Forschung anzusehen und wird für zukünftige Studien ohne Zweifel eine wichtige Grundlage sein. Die vielleicht interessanteste Erkenntnis ist, dass die Kunst van Dycks sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die Zukunft verweist: beinahe überraschend modern ist, dass ein Maler des 17. Jahrhunderts schon als Jugendlicher einen sehr eigenständigen Stil besaß und anscheinend nicht gezwungen war, seine Malweise vollständig dem Stil seines Werkstattoberhaupts anzupassen; nur kurze Zeit später führte er jedoch eine eigene Werkstatt mit vielen Mitarbeitern, was wiederum nicht mit modernen Kunstauffassungen vereinbar ist, sondern an mittelalterliche Maler-Handwerker denken lässt.
Mirjam Neumeister (Hg.): Van Dyck. Gemälde von Anthonis van Dyck, München: Hirmer 2019, 419 S., 495 Farbabb., ISBN 978-3-7774-3336-3, EUR 49,90
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