Warum gelang es der nachrichtendienstlichen Aufklärung der USA nach dem Zweiten Weltkrieg nicht, realistisch einzuschätzen, wann die Sowjetunion in der Lage sein würde, Kernwaffen zu testen, während die US-Aufklärung im Zweiten Weltkrieg zuletzt verstanden hatte, dass das Deutsche Reich von einer Kernwaffenfähigkeit weit entfernt war? Diese Frage stellt Vince Houghton, Kurator des International Spy Museum, Washington DC, in einer knapp gehaltenen Monographie.
Houghtons Thesen lauten: Erstens überschätzte die US-Aufklärung das Deutsche Reich zumindest bis Ende 1944, aber noch nach dem ersten sowjetischen Kernwaffentest im Jahr 1949 - und jedenfalls bis zum Sputnik-Schock 1957 - unterschätzte sie die Sowjetunion. Zweitens war bezüglich der Sowjetunion kein akkurateres Lagebild möglich, weil die Aufklärung des sowjetischen Atomwaffenprogramms dezentralisiert und unzusammenhängend organisiert war (182f.).
Diese Thesen überzeugen nur bedingt. Wie Houghton selbst argumentiert, gelang es der US-Aufklärung erst sehr spät, nämlich erst im Zuge der Penetration Deutschlands durch alliierte Bodentruppen 1944/45, auf das deutsche Atomprogramm bezogene Ungewissheiten substantiell zu reduzieren. Die Vor-Ort-Aufklärung in Straßburg Ende November 1944 war die wichtigste Schwelle in der Aufklärung des deutschen Atomprogramms. Diese Erkenntnisse sind freilich ein alter Hut [1].
Straßburg hatte Ende 1944 laut Houghton aber auch deswegen Schwellencharakter, weil es der US-Aufklärung im Kriege danach primär darum ging, der Sowjetunion Wissenschaftler, Unterlagen, Gerät und Laboratorien des deutschen Atomprogramms vorzuenthalten (103). Diesem Zweck diente auch die Bombardierung der Auerbachwerke in Oranienburg Mitte März 1945 (109).
Im Unterschied zu okkupierten Teilen des Deutschen Reiches konnte die US-Aufklärung in der Sowjetunion keine Vor-Ort-Inspektionen durchführen. Luftaufklärung durch Flugzeuge und Satelliten ermöglichten erst seit den frühen 1960er Jahren Erkenntnisfortschritte.
In anderen Worten: Die Hypothese, dass das Möglichkeitsspektrum im Bereich der Informationsbeschaffung in beiden Fällen sehr unterschiedlich war, bietet eine Antwort auf die Leitfrage des Buchs. Gerade im Licht von Houghtons Darstellung erscheinen weder Mängel in der Analyse - etwa aufgrund politisch-kultureller Voreingenommenheit oder Fehldeutung von Täuschungsmanövern -, noch die Organisation des Intelligence-Prozesses - Grad der Zentralisierung etc. - als annähernd so wichtig wie Hemmnisse in der Informationsbeschaffung, die aufgrund scharfer Counterintelligence-Aktivitäten beider Zielländer nie ausgeräumt werden konnten.
Vier von sechs Hauptkapiteln des Buchs untersuchen die US-Aufklärung des deutschen Atomprogramms im Zweiten Weltkrieg. Im Kern wird einmal mehr die Geschichte der Alsos-Mission erzählt. Sie wurde ab Herbst 1943 unter dem militärischen Chef des US-Atomprogramms, General Leslie R. Groves, zentral koordiniert. Die Mission hatte bis zur Besetzung Deutschlands allergrößte Schwierigkeiten, das deutsche Atomprogramm aufzuklären. Ein Dauerproblem bei der Vernehmung von (wenigen) Gesprächspartnern war es, durch eigene Fragen nicht das Aufklärungsziel erkennbar werden zu lassen. Die Befürchtung war, dass ein solcher Rückschluss, wenn er von deutschen Stellen gezogen würde, Deutschland veranlassen könnte, das eigene Atomprogramm massiv zu beschleunigen. Mitunter wurde die Mission unterstützt durch das amerikanische OSS, etwa durch Allen Dulles in der Schweiz. Eine Spezialkräfteoperation sah am Ende von der vorbehaltenen Ermordung Werner Heisenbergs, Otto Hahns und Carl-Friedrich von Weizsäckers bei deren Aufenthalt in Zürich am 18. Dezember 1944 ab. Ein fünftes Hauptkapitel legt Konturen der Reorganisation der US-Nachrichtendienste in der Nachkriegszeit dar. Die neuen Strukturen für die Aufklärung des sowjetischen Atomprogramms waren dysfunktional, so Houghton. Zuletzt thematisiert das Buch die US-Aufklärung des sowjetischen Kernwaffenprogramms. Die US-Aufklärung lag in ihrer Einschätzung des Zeitpunkts des ersten sowjetischen Kernwaffentests falsch - 1950 bis 1953 wurden genannt. Auch dies ist freilich bekannt.
Erst in einer allzu spärlichen Annotation zur Bibliographie auf Seite 209 ist zu erfahren, dass sich das Buch weitgehend auf Memoiren beteiligter Akteure und auf überlieferte Interviews mit solchen Akteuren stützt. Houghton hat daneben Nachlässe in US-Bibliotheken und Archivalien in den National Archives, College Park, eingesehen. In der Darstellung selbst wird nicht hinreichend deutlich, welches archivalische Quellenmaterial neu oder besonders wichtig ist.
In der Einleitung fehlt eine konzise Darlegung des Forschungsstandes. Einer systematischen Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur zum deutschen Atomprogramm bis 1945 - eine wesentliche Grundlage für die hiervon abhängige Frage der Güte der US-Aufklärung - hat sich der Autor nicht gestellt. Das deutsche Programm umfasste mehr als die vielgestaltigen Aktivitäten im Uranverein. Was wusste die US-Aufklärung am Ende des Krieges zum Beispiel über die Tätigkeiten der Forschungsabteilung des Heereswaffenamtes? Die Erkenntnisse von Rainer Karlsch - insbesondere Karlschs umstrittene These von der Zündung einer hybriden Testanordnung mit geringen Mengen niedrig angereicherten Urans am 3. März 1945 auf einem Truppenübungsplatz im thüringischen Ohrdruf [2] - sind dem Autor offenbar nicht bekannt.
Interessant ist der Hinweis, dass die Alsos-Mission durch Gefangennahme deutscher "Atom-Wissenschaftler" und Übernahme ihrer Geräte in südwestdeutschen Ausweichstandorten wie Haigerloch, Hechingen und Tailfingen ähnliche Versuche französischer Truppen stets knapp vereitelte.
Die amerikanisch-britische Nachrichtendienstkooperation wird allenthalben en passant thematisiert, aber nur bezogen auf das deutsche Atomprogramm. Hier und da wird eine Arbeitsteilung bei US-Dominanz erkennbar. Beispielsweise verbrachte die Alsos-Mission deutsche "Atom-Wissenschaftler" nicht nach Amerika, sondern in britische Quarantäne nach Farm Hall (Operation Epsilon), um sie abzuschöpfen. Laut Houghton war für die Nichtverbringung nach den USA das US-Interesse an Abschirmung des Manhattan Project ausschlaggebend, ebenso auch für die Entscheidung, die Wissenschaftler Ende 1945 in den Westen Deutschlands ziehen zu lassen.
Trotz einiger Defizite bereichert Houghtons Buch etablierte Forschungsperspektiven durch aufschlussreiche Aspekte zu Abläufen und Grenzen der US-amerikanischen scientific intelligence in den 1940er Jahren bezüglich in statu nascendi befindlicher Kernwaffenprogramme zweier existenzieller Gegner der USA, die Amerika einmal in einem heißen, einmal im Kalten Krieg besiegen konnte.
Anmerkungen:
[1] Vgl. nur Stanley Goldberg / Thomas Powers: Declassified Files Reopen "Nazi Bomb" Debate, in: Bulletin of the Atomic Scientists 48 (1992), 32-40.
[2] Rainer Karlsch: Hitlers Bombe. Die geheime Geschichte der deutschen Kernwaffenversuche, München 2005; Rainer Karlsch / Mark Walker: New Light on Hitler's Bomb, in: Physics World 18 (2005), 15-18.
Vince Houghton: Nuclear Spies. America's Atomic Intelligence Operation Against Hitler and Stalin, Ithaca / London: Cornell University Press 2019, VIII + 239 S., ISBN 978-1-5017-3959-0, USD 27,95
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