Der Band enttäuscht. Wesentliche Fragen zur Theorie der Kunst und Epistemologie der Kunstgeschichte stellen sich vor dem Hintergrund des Digitalen neu oder erneut. Der Band verheißt ein Fortdenken der Philosophie Hegels für die aktuelle Forschung und Theoriebildung, eine Revision des Teleologischen und entwicklungsgeschichtlichen Denkens für die Perspektiven des Fachs. Ein englisches Organisatorenduo versammelt Kollegen für Konferenz plus Publikation, vorliegen hat der Leser nun ein Buch mit, meist US-amerikanischen, Versuchen zu Hegel. Den Denker des Deutschen Idealismus hierin der Einseitigkeit, mangelnder "wahrer" Universalität und des Eurozentrismus zu überführen, wird mehrheitlich versucht. Die Publikation ist überwiegend Forum für Vertreter der world art history, visual studies und des post-colonialism. Hegel wird nicht historisiert, nicht aktualisiert, sondern kassiert.
Invektiven gegen Hegels System begannen schon zu Lebzeiten des Philosophen. Die englische Tradition der Polemik gegen den deutschen Idealisten startete ebenfalls zu Hegels Lebzeiten, spätestens mit Connop Thirlwall. Whitney Davis schreibt sich mit seinem Beitrag in jene Tradition ein. Es ist eine Polemik, die in ihrer offensiven, direkten Schärfe für die heutige Zeit vergleichslos da steht. Der einhergehende Versuch eines Gegenwurfs zu Hegels System der Ästhetik ist indes nicht frei von methodischen Misstönen.
Eine mangelhafte Auseinandersetzung mit Hegels Begriff des Romantischen charakterisiert den Band. Schade ist das, denn an dieser Stelle läge Gewinn im Methodischen. Davis' Konzeption etwa, sich als "turn-around" der Hegelschen (Übergang Symbolik zu Klassik wird Klassik zu Symbolik) verstehend, ignoriert die Stufe des Romantischen. Schöpferischer Urschritt sei die Wende von der Mimesis der Natur hin zur Erschaffung des Symbols, Gebilde indigener Kunst, halb Mensch, halb Tier, bezeugten den Urschritt. Auf das Klassische, Anthropomorphe, folge das Symbolische, das Gott auch theriomorph verstünde. Davis, sich durch die Vorstellung eines Übergangs der einen zeitlichen Stufe in ihr Anderes in Hegels Linie eines Denkens historischer Verlaufsformen einschreibend, also mit Hegel gegen Hegel denkt, belässt diesen methodischen Umstand unreflektiert. Entwicklungsgeschichtliches Denken ist kein Thema. Auch dies gilt für den gesamten Band.
Davis' Auffassung des Absoluten als das Irrationale, Unbewusste, eingeführt als originäre Version kosmologischer Perspektive (93), entspricht Schopenhauers Konzeption des Willens als treibender, irrationaler Kraft, ein für die Ästhetik und weitere Wissenschaft folgen- und einflussreiches Theorem, über die Einfühlungstheoretiker, Phänomenologen, Symbolisten, frühen Psychoanalytiker, das Projektionsparadigma bis hin zu den Künstlern selbst. Eine Konzeption, die, von Thomas Mann einmal als "Weltsexus" beschrieben, das konträre Gegenmodell zum Fortschritt von Bewusstsein und Bewusstwerdung im Zeichen "Weltgeist" bildet. Davis' dezidiert als Korrektur des Absoluten nach Hegel auftretende Position ist eigentümlich als Gegenposition, die sich selbst historisch nicht verortet.
Ingvild Torsen vor allem liefert Hinweise zur für den Komplex des Bandes entscheidenden Aufgabe: Kunstgeschichte mit Hegel weiterdenken. Doch in "The future of Hegelian art history: On the body in late modern sculpture" beschreitet sie den Weg ausgerechnet über die Leibesphänomenologie plus "embodiment", wählt also die phänomenologische Linie der Ästhetik, von Schopenhauer über Husserl bis hin zum Komplex Kunst und Körper. Merleau-Ponty wird schließlich als Theoretiker des Leibes herangezogen. Der Versuch des Brückenschlags zu Hegel überzeugt nicht. Merleau-Pontys Vorstellung vom "subject-object" in vorbegrifflicher, ureinheitlicher Erfahrung steht in der Tradition von Schopenhauers Theorie zur Überwindung der Subjekt-Objekt-Schranke im, vom Willen befreiten, Leib allein. "Thingliness", die Torsen begrifflich einführt (314), gemahnt an Heidegger, nicht Hegel.
Die seit Danto ins Englische getragene Debatte zu Hegels Diktum vom Ende der Kunst erneut zu führen, gehört zu den allgemeinen Stoßrichtungen des Bandes. Da das Diktum, als "loss-of-vacation thesis" oder "end of art thesis" angesprochen, fast ausnahmslos ohne den Zusatz "ihrer höchsten Bestimmung nach" und somit unvollständig zitiert wird, entstehen Fehlinterpretationen. [1] Beweise, dass es seit Hegel noch Kunst gab, die zuhauf passieren, bezeugen das Missverstehen. Zudem: Einen Philosophen argumentativ schlüssig in der Form von Sammelbandbeiträgen zu widerlegen, dessen These zum Ende der Kunst ihrer höchsten Bestimmung nach und zur höheren Befriedigung des Geistes auf der Ebene der gedanklichen Reflexion durch sämtliche theoretische Auslassungen über Kunst aller Sammelbandbeiträger implizit sich bestätigt, muss fehlschlagen.
Geordnet sind die Beiträge nach der jeweiligen Zuwendung der Autoren: Hegel und das Klassische, Hegel und das Romantische, Hegel und Kunst nach Hegel. Deutlich überwiegt dabei die Sektion zum Klassischen. Das Buch zu den Perspektiven der Kunstgeschichte weist seinen Schwerpunkt auf in den Auseinandersetzungen zu Hegels Begriff des Klassischen. Für Hegels Begriff des Romantischen wird nur die Malerei besprochen, der Klassiker sozusagen wiederum unter den kunsthistorischen Zuwendungen zum Komplex Hegel und das Romantische.
Eigenschaften des Geistes im Virtuellen, Spezifika der Computerkunst und der Code als Kunst werden nicht erörtert. Das Klassische nach Hegel am Technologischen - was ist es? Wie könnten, nach Maßgaben der Gehaltsästhetik, Kriterien digitaler Kunst zu entwickeln sein? Was ist romantisch im Sinne Hegels an der Netzwerkkunst? Hiernach fragt keiner. Das modernste im Band besprochene Werk stammt von 1972.
Clark, Rush und Pippin-Leser kommen auf ihre Kosten. In ihren Texten, zu malereitheoretischen Themen, transportiert nebenbei sich, was selten sich vermittelt: Freude am wissenschaftlichen Schreiben. Hier findet statt der unangestrengte Umgang mit der fremden, fremdsprachigen Terminologie, vorbildlich bei Clark. Ein solcher ist bereits für Muttersprachler nicht selbstverständlich. In academia.edu-Sprech ließe sich sagen: Clark, Rush und Pippin generieren vergleichsweise mehr clicks, bilden in sich solide Kleinststudien, das Thema des Sammelbandes souverän umschiffend. Keine Ansätze zur Zukunft der Kunstgeschichte finden sich in dem marshmallow-farbenen Band.
Hegel, dessen Geburtstag sich in wenigen Wochen zum 250. Mal jährt, gilt zu Recht als Vater der Kunstgeschichte. In, teils stiller, Referenz an ihn suchte man seither das Ende der Dinge zu bestimmen: das Ende der Kunstgeschichte (Belting), die gesamte Kultur des "post-". Der Begründer der "Weltgeschichte" wird von den Vertretern der "Weltkunstgeschichte" eher entthront als beerbt. Sein Glaube an die Allmacht des Geistes wirkt auf viele heute nicht mehr zeitgemäß. Gumbrecht teilte vor kurzem seine Beobachtung, dass man in den Geisteswissenschaften vom Geist nicht spricht. [2] Zu registrieren ist stattdessen die Forschungskonjunktur zum Weltfleisch, dem Pansomatischen, der Leibesphänomenologie. Es körpert gewaltig in der Kunstgeschichte. Eine Publikation, die das Denken Hegels systematisch für die Ästhetik ins Englische trägt, steht noch aus. [3] Für das Jubiläumsjahr 2020 ist sie nicht zu erwarten.
Anmerkungen:
[1] Arthur C. Danto: Hegel's End-Of-Art Thesis, in: A New History of German Literature, hg. von David Wellbery, Cambridge 2003, 535-540, zur Historie der Fehlinterpretation Eva Geulen: Das Ende der Kunst. Lesarten eines Gerüchts nach Hegel, Frankfurt a.M. 2002, sowie Annemarie Gethmann-Siefert: Einleitung: Über "Kunst nach dem Ende der Kunst". Zur Aktualität von Hegels Berliner Vorlesungen über Philosophie der Kunst oder Ästhetik, in: Kulturpolitik und Kunstgeschichte. Perspektiven der Hegelschen Ästhetik, hgg. von Ursula Franke / Annemarie Gethmann-Siefert, Hamburg 2005, VI-VIII.
[2] Hans-Ulrich Gumbrecht: Gelenke des Lichts, in: F.A.Z., 22.04.2020, N3.
[3] Anfänge für die Philosophie allgemein und nicht monographisch mit Dieter Henrich: Between Kant and Hegel. Lectures on German Idealism, Cambridge / London 2008, und für das Klassische der Kunst mit Julia Peters: Hegel on Beauty, New York / London 2015.
Paul A. Kottman / Michael Squire (eds.): The Art of Hegel's Aesthetics. Hegelian Philosophy and the Perspectives of Art History (= Morphomata; Vol. 39), München: Wilhelm Fink 2018, 408 S., 19 Farb-, 58 s/w-Abb., ISBN 978-3-7705-6285-5, EUR 79,00
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