Martin Kohlrauschs Studie über die ostmitteleuropäischen Architekten und Architektinnen der Congrès Internationaux d'Architecture Moderne (CIAM) als Avantgarde sozialer Architektur schließt eine Forschungslücke. Als Historiker betrachtet Kohlrausch vierzig Jahre Professionsgeschichte und ihre historischen Bedingungen in deduktiver Perspektivierung und formt die Untersuchung der Akteure, ihrer Ausbildung, Institutionen und Werte zu einem Spiegel des Nation-building vor allem in Polen. Daran schließt er die quellenkritische Untersuchung moderner Medien und Darstellungstechniken sowie der Diskurse in den CIAM anhand der erhaltenen Korrespondenz zwischen den Hauptprotagonisten in West und Ost an. Die Grundlage dafür bildet das asymmetrische Machtverhältnis zwischen den neuen postimperialen Staaten Ostmitteleuropas und den Großmächten Deutschland und Russland.
Als parabola (287) versteht Kohlrausch Aufstieg und Fall osteuropäischer CIAM-Mitglieder um den Architekten Szymon Syrkus und die Architektin Helena Syrkus. Sie waren als Experte und Expertin sozialer Architektur in Organisationen wie der Assoziation Polnischer Architekten und Behörden wie der Planungsabteilung von Warschau tätig, planten den (Um-)Bau der Städte, publizierten in Büchern und Magazinen, stellten auf Welt- und Nationalausstellungen aus, nutzten moderne Bild-Sprache und trafen sich mit Gleichgesinnten in ganz Europa. So entfalteten sie einen new communication space und durch Standardisierung und Rationalisierung in Architektur und Design ein "miracle of synchronicity" (175). Dieses verankerte den Kanon internationaler moderner Architektur einschließlich der von Kohlrausch diskutierten Asymmetrien bis heute.
Das Streben nach Einholen des Westens und die hohe Dynamik gesellschaftlichen Wandels in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn gibt den argumentationsleitenden Rahmen vor, in dem Kohlrausch die soziale Mission von Helena und Szymon Syrkus, Karel Teige, Fred Forbát oder Farkas Molnár nachvollzieht. Wenn man sie mit der "geordnete[n] Gemeinschaft vergleicht, die Uno Åhrén und Sven Markelius im sozialdemokratischen Schweden planten [1], zeigt sich die Machtfülle des postimperialen Staats. Das Tertium Comparationis ist der Urbanismus, der in Polen eine staatslegitimierende Bedeutung erhielt und die neue Hauptstadt Warschau als Kreuzung interkontinentaler Verkehrswege auf die europäische Agenda setzte. Unter dem autokratischen Sanjaca-Regime ab 1926 koordinierten Ministerien und der Warschauer Bürgermeister, ausgestattet mit besonderen Vollmachten (217), politisch linksstehende Architekten und Architektinnen wie S. Syrkus bei der Planung von Groß-Warschau, die in gut besuchten Ausstellungen wie "Warschau von morgen" (1936) der Öffentlichkeit präsentiert wurden. Kohlrausch deutet auf das Fehlen von Zivilgesellschaft und privater Bauherren- und Bauherrinnenschaft hin, die das hohe technokratische Level eines datengestützten und zugleich prognostizierenden Urbanismus erklären (Plan einer Weltausstellung 1943 und der Olympischen Spiele 1956 in Warschau). Das Konzept der "Funktionalen Stadt", verabschiedet auf dem CIAM 1933 in Athen, wurde in Polen von der Staatsbank und der Assoziation für Arbeitersiedlungen unterstützt und erhielt so die Schlagkraft für ihre Realisierung nach dem 2. Weltkrieg. "Warszawa Funkcjonalna" (Funktionales Warschau) wurde von H. Syrkus ins Deutsche und Französische übersetzt. Einflussreiche Architekten wie Le Corbusier und Stadtplaner wie Hans Bernoulli und Patrick Abercrombie goutierten die Entwürfe, Walter Gropius, Martin Wagner und Otto Neurath kritisierten sie. H. und S. Syrkus nahmen leitende Funktionen im CIAM an. Ihre Eigenschaft als Broker of Modernity, die sich mit ihren westlichen Kollegen und Kolleginnen über den vermeintlich krisenhaften Status der europäischen Städte einig waren, machte sie zu Vermittlern modernistischer Lösungsansätze auf Augenhöhe mit dem Westen. Eine wechselseitige economy of prestige (229) war die Folge, die solange wirksam war, wie "Funktionale Stadt" und CIAM existierten. Sie lässt sich noch an der Internationalen Bauausstellung Berlin 1957 aufweisen, ebenfalls eine "Stadt von morgen".
Die informal alliance (234) zwischen modernistischen Architekten und Architektinnen und modernisierendem Staat geriet 1937/38 durch politische Radikalisierung unter Druck. Durch Krieg und Holocaust zerbrach sie. S. Szyrkus war drei Jahre lang in Auschwitz inhaftiert, wo er in der SS-Bauabteilung überlebte; H. Szyrkus wurde Anfang 1945 verhaftet. Während der Zerstörung Warschaus planten sie als PAU (Architektonisch-urbanistische Werkstatt) Arbeitersiedlungen, die Ende der 1940er Jahre gebaut wurden. Die vision of modernism (254) half nicht nur zu überleben, sondern auch sogleich im neuen Staat Fuß zu fassen: Um den "urbicide" (259) von Warschau - neben Stalingrad die am meisten zerstörte Stadt - zu überwinden, wurden Konzepte und Akteure der Zwischenkriegszeit wieder eingesetzt. Die Syrkus' arbeiteten im BOS (Amt für die Rekonstruktion von Warschau) und verstärkten die nicht abgerissene Kommunikation mit den CIAM. Doch die neue kommunistische Elite widersetzte sich den über die Rekonstruktion hinausgehenden Groß-Warschauplänen und integrierte die Planer in ihren von 1948 an gültigen Sechs-Jahres-Plan und das Bauen im "national style" (266) des Sozialistischen Realismus. Als sich H. Syrkus für dessen Adaption aussprach und ihre westlichen Kollegen und Kolleginnen desillusionierte, ergriff der Cold War auch die CIAM. Allerdings, so kann es Kohlrausch mittels seiner - in der Moderneforschung - vergleichsweise langen Studie zeigen, brachen auch die Konflikte der 1930er Jahre wieder auf.
Kohlrausch zeigt, dass der "struggle for a new thinking" (Karel Teige, 83) auch den (Ehe-)Frauen den autonomen Status als professionelle Persona erlaubte - ihnen vielleicht aber auch mehr Gruppenzwang auferlegte. Denn es ist mit H. Syrkus wieder die Frau, die das Gedächtnis pflegt und es gegen neue Sichtweisen verteidigt. Kohlrausch interpretiert dies als Perpetuierung des Verhaltens als Broker of Modernity, was allerdings nicht den Genderaspekt erklärt. Syrkus gelingt es, neben ihrer Professur das Erbe von CIAM-Ost bis zu ihrem Tod 1982 in diversen Archiven zu verankern. Sie glaubt ungebrochen an den superioren Status des Sozial-Architekten und liefert Kohlrausch mit "Le peuple donnera les forces à ses architectes" den antidemokratischen Schlusssatz (289). Die von ihr bekämpften Asymmetrien existieren heute noch, wenn man die unvollständigen und sich im Detail widersprechenden Wikipedia-Einträge zu H. und S. Syrkus liest. In der englischen Wikipedia existiert für Szymon Syrkus gar kein Eintrag. [2]
Architekten und Architektinnen als Broker zu betrachten heißt, sie innerhalb ihrer Netzwerke als zentrale Akteure zu erforschen. Sie stehen dabei nicht für einen Stil, sondern für die Gestaltung einer politischen Staatsidee ein. Dieser Ansatz marginalisiert den Quellenstatus von Bauwerken und steht damit quer zur oft material- und kanonbasierten deutschen Architekturhistoriografie. Der auf Englisch publizierende Autor verortet sich jedoch in der stärker sozial- und medienhistorisch ausgerichteten internationalen (Architektur-)Forschung, die sich für die Moderne als Konfliktgeschichte interessiert. Allerdings existieren auch hier Längsschnittstudien, die Bauten heuristisch behandeln. So hat Yael Allweil gezeigt, wie durch die Gestaltung von Wohnbauten in den Territorialkonflikten in Palästina-Israel politische Beharrungskräfte ausgedrückt wurden .[3]
Anmerkungen:
[1] David Kuchenbuch: Geordnete Gemeinschaft. Architekten als Sozialingenieure. Deutschland und Schweden im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2010.
[2] Helena Syrkus, in: Wikipedia, URL: https://en.wikipedia.org/wiki/Helena_Syrkus (Aufruf am 30.6.2020.).
[3] Yael Allweil: Homeland. Zionism as Housing-Regime, 1860-2011, London / New York 2017.
Martin Kohlrausch: Brokers of Modernity. East Central Europe and the Rise of Modernist Architects, 1910-1950, Leuven: Leuven University Press 2019, 399 S., zahlr. Kt., zahlr. Abb., ISBN 978-94-6270-172-4, EUR 55,00
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