Mit dem Thema dieses Buches, das aus einer an der Universität York eingereichten anglistischen Dissertation hervorgegangen ist, hat sich Kate H. Thomas für eine nicht einfach zu bearbeitende Fragestellung entschieden. Sie möchte versuchen, die Praxis des persönlichen, zumeist außerhalb der Liturgie und ihrer festgelegten Praktiken geübten Gebets in spätangelsächsischer Zeit, also im 10. und etwa der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts, zu erhellen.
Da die frühmittelalterlichen Sammlungen privater Gebetstexte im Gegensatz zu den im Untertitel genannten spätmittelalterlichen Stundenbüchern nicht oder nur in Teilen der liturgischen Praxis folgen, lassen sich aus dieser auch kaum Erkenntnisse für die außerliturgische Gebetspraxis ableiten. Es fehlt zudem das normierende Moment: So gut wie jede frühmittelalterliche Handschrift mit Gebetstexten ist ein Werk eigenen Rechts. Den einzelnen Gebeten fehlen manchmal Rubriken, die Auskunft über den Gebetsanlass und die intendierte Benutzung geben könnten. Sind solche vorhanden, lauten sie häufig bloß Oratio oder Item alia, und auch eine Rubrik wie Oratio pulchra sagt vielleicht etwas über die Wertschätzung, aber nichts über Zweck und Gebrauch des so bezeichneten Textes aus.
Bei derartig spärlichen Informationen, wie sie die Quellen bieten, muss jedes Detail für die Interpretation herangezogen werden. Die Autorin interessiert sich dementsprechend nicht nur für die Rubriken, sondern auch für formale Parallelen innerhalb der Gebetstexte und nicht zuletzt für das Layout: die Verwendung farbiger Tinten, von Auszeichnungsschriften und von Initialen in unterschiedlicher Größe und Ausschmückung. Dazu muss die Untersuchung häufig über die Editionen hinaus auf die Handschriften selbst zurückgreifen.
Vor allem aber verfolgt sie ausgewählte Gruppen von Gebeten durch die einzelnen Handschriften, fragt nach ihren jeweiligen Kontexten und nach den Veränderungen, denen sie unterlagen (etwa Ergänzungen um weitere Gebetstexte). Dabei setzt die Untersuchung häufig bei den karolingischen Gebetbüchern ein, aus deren Tradition die untersuchten englischen Sammlungen geschöpft haben. Sie bedient sich geschickt zahlreicher tabellarischer Übersichten, die den Text von umständlichen Beschreibungen entlasten und manches bereits mit einem Blick erkennen lassen. Überhaupt verliert sich die Darstellung bei allem notwendigen Beharren auf dem Detail nicht in diesem, sondern verfolgt stringent ihre Argumentation.
Bemerkenswert und sicherlich wegweisend für weitere Untersuchungen ist die Unterscheidung von vier Arten dieser Gebetsgruppen: series, sequence, program und office (33-39). Mit series ist die Abfolge nicht erkennbar miteinander verbundener Einzelgebete gemeint, also eigentlich keine Gruppe. Diese Kategorie spielt in der Untersuchung dann auch weiter keine Rolle mehr. Sequence bezeichnet eine Abfolge von Gebeten, die sich von ihrem Umfeld abgrenzen lassen und sich durch ein gemeinsames Thema oder Anliegen auszeichnen, manchmal auch ähnlich strukturierte Rubriken und sogar Gebetstexte aufweisen. Ein program zeichnet sich durch einen höheren Komplexitätsgrad aus. Hier werden Texte verschiedener Art, etwa Psalmen, Psalmverse, Vaterunser, Kyrie und Kollektengebete miteinander verbunden. Das office schließlich folgt in der Auswahl und Anordnung der Gebetstexte dem liturgischen Stundengebet.
Mit diesem Instrumentarium werden nach einer Einleitung (1-41), die knapp und klar das Thema, die Methoden, die hauptsächlichen Quellen und den Gang der Untersuchung beschreibt, in fünf etwa gleich großen Kapiteln unterschiedliche Gebetsgruppen untersucht. Im Mittelpunkt des 1. Kapitels (42-79) stehen Gebete zur Trinität und zu den Heiligen, die als typische sequence zu bezeichnen sind. Von ihnen ausgehend lenkt die Autorin den Blick auf office-Elemente in den Gebetbüchern. Das 2. Kapitel (80-128) beginnt wiederum mit einer sequence zu den Gebetsstunden und wendet sich dann einem Typ von Psalmengebet zu, der die differenziertere Form eines program zeigt. Im 3. Kapitel (129-176) geht es um programs zur Kreuzverehrung, die in enger Verknüpfung zur Liturgie stehen. Das 4. Kapitel (177-226) besitzt insofern eine Sonderstellung, als es zur Untersuchung von Schutz- und Heilungsgebeten den Quellenrahmen auf medizinische Handschriften in der Volkssprache ausweitet und damit zugleich zeigt, wie fließend die Grenzen waren zu dem, was man mit dem problematischen Begriff 'Magie' bezeichnet. Das letzte Kapitel (227-275) bewegt sich wie das dritte auf der keinesfalls klaren Grenze zwischen liturgischem und privatem Beten, indem es Sündenbekenntnisse (confessiones) und Gebete um Sündenvergebung behandelt.
Was die Autorin nicht untersucht, ist ein einzelnes Gebetbuch als Gesamtwerk, wie es aus einzelnen series, sequences, programs und vielleicht auch offices gewissermaßen modular zusammengesetzt ist. Soll man das bedauern? Der Rezensent neigt dazu, diese Frage im Blick auf die untersuchten spätangelsächsischen Gebetbücher zu verneinen. Eine derartige Untersuchung müsste den Umfang des Buches erheblich erweitern, ohne dass ein entsprechendes Maß an neuen Erkenntnissen erwartet werden dürfte.
Wird das Fehlen einer entsprechenden weitergehenden Untersuchung durch die Stringenz der sich auf die Gebetsgruppen beschränkenden Argumentation wettgemacht, hätte Letztere nicht darunter gelitten, wenn bei aller löblichen Quellennähe die Sekundärliteratur - v. a. auch die nichtenglischsprachige - manchmal stärker herangezogen worden wäre. So wird eine wichtige Quelle, die Gebete aus dem Psalter London, BL, Arundel 155, nach veralteten und zudem auf drei Zeitschriftenaufsätze verteilten Editionen zitiert, da eine 2014 erschienene deutsche Dissertation nicht bekannt zu sein scheint. [1] Für die Gebete zur Kreuzverehrung hätte die Autorin klärende Informationen aus einem alten, aber immer noch brauchbaren Aufsatz von André Wilmart ziehen können, [2] und ihre Ausführungen zu den Gebeten gegen Feinde hätten von Lester K. Littles Studien über liturgische Verfluchungsrituale profitiert. [3]
Insgesamt aber gilt: Wie Kate H. Thomas ihr schwieriges Thema bearbeitet hat, ist für die Erforschung der frühmittelalterlichen Gebetsliteratur - weit über den insularen Raum hinaus - vorbildlich. Besonders ihre Unterscheidung unterschiedlich elaborierter Gruppen von Gebeten wird sich zweifellos als fruchtbar erweisen. Indem sie sich der außerliturgischen Gebetspraxis zugewandt hat, die in den älteren Studien, wenn nicht völlig vernachlässigt, so doch gänzlich unbefriedigend behandelt worden ist, leistet sie einen wegweisenden Beitrag zur Erforschung der frühmittelalterlichen Gebetbuchliteratur insgesamt.
Anmerkungen:
[1] Dominik Kuhn: Der lateinisch-altenglische Libellus precum in der Handschrift London, British Library, Arundel 155 (= Münchener Universitätsschriften. Texte und Untersuchungen zur Englischen Philologie 41), Frankfurt/M. [u. a.] 2014. http://www.sehepunkte.de/2015/09/27187.html
[2] André Wilmart: Prières médiévales pour l'adoration de la croix, in: Ephemerides Liturgicae 46 (1932), 22-65.
[3] Besonders: Lester K. Little: Formules monastiques de malédiction au IXe et Xe siècles, in: Revue Mabillon 58 (1970-1975), 377-399.
Kate H. Thomas: Late Anglo-Saxon Prayer in Practice. Before the Book of Hours (= Richard Rawlinson Center Series for Anglo-Saxon Studies), Berlin: De Gruyter 2020, 316 S., 25 Tbl., ISBN 978-1-58044-361-6, EUR 94,95
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