Ausweislich des Titels scheint hier nach der 2006 publizierten Dissertation Rose-Marie Schulz-Rehbergs [1] eine zweite Monografie über die Aachener Elfenbeinsitula vorzuliegen. Davon kann aber nur sehr eingeschränkt die Rede sein. Zwar stellt der Verfasser zu Beginn das Objekt kurz auf einer Seite vor und deutet dabei an, dass er die gängige Identifizierung der Sitzfigur im oberen Figurenfries zwischen Herrscher und Papst als heiligen Petrus anzweifelt (9-10). Aber erst auf Seite 199 wendet sich Hoffmann wieder der Situla zu und versucht auf den letzten gut dreißig Seiten zu belegen, dass es sich bei der genannten Figur um eine Darstellung des heiligen Adalbert von Prag handele.
Worum geht es in den drei langen Kapiteln dazwischen? Zunächst referiert der Verfasser die verschiedenen von Otto III. getroffenen Maßnahmen für das Aachener Marienstift, wobei er besonderen Wert auf die urkundlich überlieferten Donationen, darunter Reliquien des Hl. Adalbert, für den Auferstehungsaltar legt (21-46). Das zweite Kapitel rollt in epischer Breite den Komplex der schriftlichen Quellen zum Heiligen auf, wobei das Verhältnis zu und die Rezeption durch Otto III. einen Schwerpunkt bilden (47-114). Auch im dritten Kapitel geht es zunächst um die Charakterisierung Adalberts in den hagiografischen Textzeugnissen (115-143), bevor sich Hoffmann den "ältesten erhaltenen Bildzeugnisse[n] des Heiligen" zuwendet (144-195): Diese sind mit einer zweifelhaften Ausnahme, den Reliefs der Brunneneinfassung in der Kirche San Bartolomeo all'Isola in Rom, alle dem 12. Jahrhundert zuzurechnen und somit mindestens ein Jahrhundert nach der Aachener Situla entstanden. Dem Adalbertszyklus der Gnesener Bronzetüren aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts werden über dreißig Seiten gewidmet, auf denen jedes Relief einzeln beschrieben und auf seinen Bezug zu den schriftlichen Quellen überprüft wird - wobei Hoffmann überwiegend den Kenntnistand von Ursula Mendes 1983 erschienenem Buch über die Bronzetüren des Mittelalters referiert. Neuere Literatur zum Werk scheint ihm nicht bekannt zu sein. [2]
Einzelne Aspekte dieser drei Kapitel spielen bei der Beweisführung zur vermeintlichen Adalbertsfigur auf der Aachener Situla eine Rolle. Aber die meisten Ausführungen etwa zu den Textquellen oder zu den Gnesener Bronzetüren verselbstständigen sich und haben eher den Charakter von Exkursen, deren Erkenntnisgewinn sich in Grenzen hält. Anscheinend versammelt der Verfasser hier, wie an einer Stelle angedeutet wird, lange zurückreichende Überlegungen und Forschungen zu einem "Spannungsfeld" (11), in dem sich Otto III., der frühe Adalbertskult und das Aachener Marienstift befinden. Mit der Frage nach der Heiligendarstellung auf der Situla werden diese Textmengen notdürftig zusammengeklammert.
Wie argumentiert Hoffmann aber nun bezüglich der vermeintlichen Adalbertsdarstellung und welche Schlüsse zieht er daraus für die Elfenbeinsitula? Er weist zu Recht darauf hin, dass die seit Adolf Goldschmidt übliche Identifizierung der Zentralfigur als heiligen Petrus aufgrund des Fehlens spezifischer Attribute (z.B. Schlüssel) problematisch ist (206-215). Allerdings reichen die Indizien - Tonsur, antikisierende Gewandung, Barfüßigkeit, Segensgeste, Buch, Position zwischen Herrscher und Papst, zweifelhaft datierte Inschrift "SCS" - ebenso wenig aus, um hier den heiligen Adalbert zu erkennen. Wenn der Verfasser mit viel Fantasie im Untergewand der Figur eine "Albe mit Stola" erkennt (214), das antikisierende Obergewand als ein Zeichen für ein "Apostolat" liest (ebd.) und ihm diese vermeintliche Kombination von Bischofsamt und Mission als zentrales Indiz für eine Adalbertsdarstellung gilt (221), dann ist das Maß an Spekulation erheblich. Hier hilft auch ein Vergleich mit den Darstellungen des Heiligen auf den mindestens 150 Jahre später entstandenen Gnesener Bronzetüren nicht weiter (220). Hoffmann erkennt ebenso in der Kombination von Herrscher- und Bischofsdarstellung der Brunneneinfassung von San Bartolomeo all'Isola eine Parallele zur Elfenbeinsitula, die er als weiteres Indiz für die von ihm angestrebte Identifizierung wertet (217-218). Die strittige Datierung des römischen Werkes - ottonisch oder 12. Jahrhundert? - ist ihm bekannt. Dass die Deutung des Bischofs des Brunnenreliefs als heiligen Adalbert längst nicht mehr communis opinio der Forschung ist [3], entgeht Hoffmann jedoch: Peter Cornelius Claussen hat 2002 in einem ausführlichen Plädoyer für die Spätdatierung diese Figur mit guten Gründen als den heiligen Paulinus von Nola identifiziert. [4] Der eigenwillige Umgang mit dem Forschungsstand insbesondere in den kunsthistorischen Ausführungen Hoffmanns betrifft nicht nur die Vergleichsbeispiele, sondern auch das Objekt, das im Zentrum der vorliegenden Monografie steht: Mit bemerkenswerter Nonchalance verweist der Autor für "einen ausführlichen Überblick über die Forschungsgeschichte" zur Situla auf die Dissertation von Schulz-Rehberg (206) und führt eine Reihe einschlägiger Titel nicht im Literaturverzeichnis auf. [5]
Am Ende einer Rechnung, die überwiegend mit Unbekannten arbeitet, steht nach zunächst relativierenden sprachlichen Wendungen ("durchaus vorstellbar", 221) mit überraschender Eindeutigkeit das Fazit, dass "mit der Zentralfigur ein bislang unbekanntes Bildzeugnis des hl. Adalbert eruiert werden" konnte (230). Darauf aufbauend hat der Verfasser ein Szenario entwickelt, bei dem die Stiftung der Situla vom Aachener Marienstift initiiert wurde, um anlässlich einer Reliquienstiftung für den Auferstehungsaltar der von Papst und Kaiser gemeinsam geförderten Verehrung des jüngst verstorbenen Märtyrers Adalbert zu gedenken (221-231). Ähnlich wie bei Schulz-Rehberg, die aufgrund zweifelhafter Hypothesen mit Otto III. einen kaiserlichen Stifter des Werks präsentiert hatte [6], wird bei Hoffmann die Elfenbeinsitula zu einer Projektionsfläche für eine möglichst signifikante und prominente historische Konstellation.
Anmerkungen:
[1] Rose-Marie Schulz-Rehberg: Die Aachener Elfenbeinsitula. Ein liturgisches Gefäss im Spannungsfeld von Imperium und Sacerdotium. Eine kunst-historische Analyse, Münster 2006.
[2] Ursula Mende: Die Bronzetüren des Mittelalters 800-1200, München 1983, 84-93. Vgl. als wichtigen späteren Beitrag zur Forschung: Valerie Figge: Das Bild des Bischofs. Bischofsviten in Bilderzählungen des 9. bis 13. Jahrhunderts, Weimar 2001, 127-144.
[3] "Nach der gängigen Forschungsmeinung", so Hoffmann (155), sei hier u.a. der Hl. Adalbert dargestellt. Sein Beleg ist ein Titel von 1967: Walther Buchowiecki: Handbuch der Kirchen Roms, Wien 1967, 442.
[4] Peter Cornelius Claussen: Die Kirchen der Stadt Rom im Mittelalter 1050-1300. A-F (= Corpus Cosmatorum II,1) (= Forschungen zur Kunstgeschichte und christlichen Archäologie; Bd. 20), Stuttgart 2002, 152-163.
[5] Das schließt das Fehlen von Literatur, die Schulz-Rehberg nicht zitiert, ein: Hermann Fillitz: Bemerkungen zur Situla des Aachener Domschatzes, in: Ars et scriptura, Festschrift für Rudolf Preimesberger zum 65. Geburtstag, hrsg. von Hannah Baader, Berlin 2001, 35-43.
[6] Vgl. dazu die Kritik von Ulrike Koenen: Rezension von: Rose-Marie Schulz-Rehberg: Die Aachener Elfenbeinsitula. Ein liturgisches Gefäss im Spannungsfeld von Imperium und Sacerdotium. Eine kunst-historische Analyse, Münster 2006, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 3 [15.03.2008], URL: http://www.sehepunkte.de/2008/03/13280.html (zuletzt eingesehen am 13.09.2020).
Jürgen Hoffmann: Die Elfenbeinsitula im Domschatz zu Aachen im Kontext des von Otto III. geförderten Adalbertskultes, Regensburg: Schnell & Steiner 2018, 239 S., 38 s/w-Abb., ISBN 978-3-7954-3401-4, EUR 29,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.