Vom traditionellen "langen 19. Jahrhundert" gibt es in diesem 486 Seiten starken Buch die zweite Hälfte, wobei die Zeit der von Hans-Ulrich Wehler sogenannten politischen und industriellen "Doppelrevolution" um 1850 als Epochenschwelle dient. Die Revolution in ihrem Ablauf bildet dabei schon die nicht mehr dargestellte Voraussetzung. Überhaupt kommt, wer hier einen ereignisgeschichtlichen Leitfaden sucht, nicht auf seine Kosten. Wohl aber können Fachleute der diversen Nationalgeschichten Hinweise finden, wie sich die einzelstaatlichen Entwicklungen im europaweiten Vergleich darstellen.
Paulmann eröffnet sein Thema, indem er die Frage nach den Grenzen Europas stellt. Für ihn ist klar, dass Europa "als eine historisch gewordene, kulturell konstruierte Vorstellung" begriffen werden muss (9). Der Gedanke, den Kontinent einmal durch eine Reihe von Besuchen an seinen Meerengen zu umrunden, ist aufschlussreich, weil die Meerengen sowohl den für Europa kennzeichnenden Verkehr über die Weltmeere ermöglichten als auch Schnittpunkte der Großmachtinteressen waren. In den folgenden analytischen Querschnitten werden jeweils die europäischen Siedlerkolonien und die inneren Strukturen der Kolonialreiche mit bedacht.
Anstelle einer Aneinanderreihung von Nationalgeschichten gliedert Paulmann sein Werk ausschließlich nach Sachgebieten. Dabei gelingt es ihm, stellenweise zu einer gesamteuropäischen Synthese in der Darstellung vorzudringen. Angesichts der heterogenen Forschungsstände und national unterschiedlichen Fragestellungen ist diese gesamteuropäische Synthese ebenso schwer zu erreichen, wie sie wünschenswert ist.
Die eigentliche Darstellung beginnt mit der Bevölkerungsgeschichte, wobei der demographische Übergang und die Migration erklärt werden. Paulmann betont, dass für die Erfahrung der europäischen Gesellschaften die Binnenmigration weit bedeutender als die Auswanderung war, und erinnert daran, dass infolge des absoluten Bevölkerungswachstums die Landbevölkerung trotz Abwanderung noch zunahm. Er erklärt die Relevanz der verschiedenen agrarischen Besitzverhältnisse und ihres Wandels. Urbanisierung und die Ausprägung der nach Himmelsrichtungen unterscheidbaren europäischen Familienmodelle werden besprochen, "Rasse" und Ethnizität nach aktuellen Maßstäben diskutiert. Die sieben Siemens-Brüder dienen dazu, den rational berechnenden Einsatz von Familienbanden für die europaweite Expansion eines hoch innovativen Unternehmens zu veranschaulichen.
Auf dem Weg der Darstellung von der Geografie über die Demografie und die ökonomischen Verhältnisse des Marktes, Verkehrs und der Industrialisierung gelangt Paulmann zur Kultur. Die ersten Biografien, die er im Buch ausführlich referiert, sind die von Leo Tolstoi, Giuseppe Verdi und Sarah Bernhardt, die als "Heroen der Kultur" vorgestellt werden. Alle drei verbanden Relevanz für die eigene Nation mit einer europaweiten oder gar weltweiten Ausstrahlung. Zu dieser Rolle passte es durchaus, dass Verdis Vereinnahmung für das italienische Risorgimento erst erfolgte, nachdem die politische Einigung Italiens erfolgreich abgeschlossen war. Auf eine ausführliche Darstellung der Universitätssysteme in den europäischen Nationalstaaten folgt eine Betrachtung zur Rolle der Religion. Nachdem die Unterordnung der verschiedenen, zusehends überall gleichberechtigten Kirchen unter den Staat im 19. Jahrhundert erst auf ihren Höhepunkt gekommen sei - hier folgt Paulmann ausdrücklich Wolfgang Reinhard - , habe die in den diversen Kulturkämpfen der europäischen Länder ausgetragene Auseinandersetzung zwischen Säkularismus und Religion durchaus eine Stärkung von Religion als eines Elements individueller Lebensgestaltung zur Folge gehabt. Etwa gleich viel Platz räumt Paulmann daher einer Zusammenfassung der darwinistischen Theorie und einer Schilderung der Institutionalisierung von Lourdes als internationaler Wallfahrtsort ein. Da Europas Dominanz auf dem Globus einen Leitgedanken des Buches ausmacht, mag es nicht überraschen, dass der einzige Romanautor, der neben Tolstoi mit seinem Werk ausführlich zu Wort kommt, Joseph Conrad ist.
Europa wurde auch geeint durch den monarchischen Konstitutionalismus als die gängige Regierungsform, durch die säkulare Tendenz zur Ausweitung des Wahlrechts und durch das Aufkommen der Massenpolitik, den Aufbau einer Leistungsverwaltung und die Zunahme der inneren Verwaltungsausgaben im Verhältnis zur äußeren Sicherheit. In keinem dieser Punkte stellte Deutschland eine Ausnahme dar. In den Kolonien der europäischen Mächte hingegen beruhte Herrschaft "weniger auf bürokratischen Prinzipien, vielmehr auf Gewalt" (329). Sie war "strukturell in der relativen Schwäche der Kolonialadministration verankert" (330). Auch das Staatsbürgerschaftsrecht wurde, wie Paulmann zeigt, durch den Imperialismus geprägt. So war das Ziel, eine zahlreiche Einwohnerschaft für den Wehrdienst heranziehen zu können, während man gleichzeitig asiatische Einwanderung weder nach Frankreich noch nach Großbritannien oder Kanada wünschte. "Das Territorialprinzip als Grundlage der Staatsbürgerschaft" habe dabei "nicht automatisch Einheitlichkeit und Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger" hergestellt und "insbesondere die imperiale Herrschaft über heterogene Gebiete" habe "verschiedene Abstufungen und eine nur partikulare Reichweite von Staatsbürgerrechten" bekräftigt (345). Daher erscheint der Gegensatz zwischen Frankreich, das 1889 das Abstammungs- mit dem Territorialprinzip vertauschte, und Deutschland, wo das Abstammungsprinzip 1913 fortgeführt wurde, laut Paulmann als "ideologisch aufgeladen" (343).
Nationalstaaten waren aber nicht die einzigen politischen Triebkräfte der Epoche. "Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war in der Tat auch eine Epoche des Internationalismus und seiner verschiedenen Ausprägungen" (357). "Insgesamt wurden zwischen 1850 und 1914 fast 500 internationale Organisationen gegründet" (395). Pazifisten, Sklavenbefreier und Sozialreformer taten sich besonders hervor. Paulmann sieht freilich als Antrieb für Regierungen, sich in internationalen Gremien zu betätigen, weniger den Wunsch nach Völkerverständigung als die Austragung von Konkurrenz unter den Bedingungen des modernen Verkehrs- und Kommunikationsnetzes. Auch der Imperialismus sei ein Resultat dieses Konkurrenzverhältnisses gewesen, was friedlichen Ausgleich zwischen den imperialistischen Mächten nicht ausschließen musste. Von einer "Ablenkung" innereuropäischer Spannungen in die kolonialen Zonen will Paulmann hingegen nicht sprechen.
Schrittweise wurde im europäischen Staatensystem die Orientierung an einem Begriff des Gleichgewichts, der Gerechtigkeits- und Legitimitätsvorstellungen einschloss, durch das Denken in den Bahnen der "Realpolitik" abgelöst, wodurch die Solidarität der gekrönten Häupter entwertet und ihnen ihre einzige Daseinsberechtigung als Exponenten ihrer jeweiligen Nationalstaaten zugewiesen wurde. Dieses Feld, das Paulmann in seiner Habilitationsschrift bestens bearbeitet hat, rückt im Band auf die hinteren Seiten. In dieser Darstellung kommen "Bismarcks Tricks, Intrigen und seine geheimen Aktionen" (375), die "nur auf den ersten Blick defensiver Natur" (377) waren, schlecht weg. Paulmanns Beispiele sind gut gewählt. So kann er am Stil der Friedensverhandlungen von Portsmouth 1905 die Fußangeln zeigen, die den neu auf dem globalen Parkett agierenden Japanern durch die europäischen Gepflogenheiten gelegt wurden. Die Blockbildungen und Krisen, die schließlich in den Ersten Weltkrieg führten, bewegten sich zwischen der Erwartung eines schließlich "unvermeidlichen Krieges" einerseits und der wiederholten Erfahrung erfolgreicher Entspannung andererseits. Die bekanntesten Formulierungen aufgreifend, stellt Paulmann fest: "Die Mächte schlitterten nicht in den Krieg, sie wandelten auch nicht im Schlaf in ihn hinein. Die europäischen Regierungen nahmen in jeweils unterschiedlichen Mischungen das Risiko eines großen Krieges bei vollem Bewusstsein in Kauf, obgleich sie paradoxerweise in aktuellen Krisen erwarteten, dass er noch nicht kommen werde" (445).
In seinem abschließenden "Rückblick" bezieht Paulmann noch einmal ausdrücklich den "Sehepunkt" der Gegenwart und stellt noch einmal besondere Beobachtungen an: Das heute entstehende Glasfasernetz folgt "in Aufbau und ungleicher Nutzung, auch im globalen Maßstab, dem im 19. Jahrhundert entwickelten Telegrafen- und Kabelnetz" (450). Die innereuropäischen Migrationsströme, wie sie seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunächst in Süd-Nord-, dann in Ost-West-Richtung verliefen, folgten den Mustern des 19. Jahrhunderts. Auch das eurozentrische kulturelle Überlegenheitsgefühl, das damals befestigt wurde, dürfte heute noch in den Köpfen vorherrschen. Das asymmetrische Verhältnis, das zwischen den Kolonialmächten und den unterworfenen Gebieten herrschte, werde, so meint Paulmann, zwischen der Europäischen Union und den heute formal unabhängigen Ländern fortgesetzt.
Für das Werk richtungweisende Literatur wird nur in einem knappen Überblick sowie in den im Text eingestreuten Verweisen auf Historikerkollegen nachgewiesen, Fußnoten sind also fortgelassen. Dafür gibt es eine vierseitige Zeitleiste. Vor uns liegt eine Darstellung mit beträchtlichem Abstraktionsgrad, für die Laien gedacht, aber vielleicht von den Fachleuten erst in ihrer vollen Tragweite verstanden.
Johannes Paulmann: Globale Vorherrschaft und Fortschrittsglaube. Europa 1850-1914 (= C.H.Beck Geschichte Europas), München: C.H.Beck 2019, 486 S., 1 Kt., 4 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-62350-9, 19,95
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.