Eckart Giebeler war der wichtigste und zeitweise der einzige hauptamtliche Gefängnisseelsorger in der DDR. Bereits 1950, im Alter von 25 Jahren, nach nur zweijähriger Predigerausbildung und mit wenigen Monaten Berufspraxis, übernahm er die seelsorgerische Arbeit mit politischen und kriminellen Gefangenen. Drei Jahre später wurde er zusammen mit den Pfarrern Hans-Joachim Mund und Heinz Bluhm vom Innenministerium fest angestellt, dem ab 1950/52 nahezu alle Strafvollzugsanstalten und die meisten Untersuchungshaftanstalten in Ostdeutschland unterstanden.
Trotz seines Dienstgrades als Major blieb der Geistliche in den militärischen Strukturen dieses Ministeriums zeitlebens ein Fremdkörper. Die Evangelische Kirche wiederum gestattete den drei Gefängnisseelsorgern zwar den Zugang zu den Pfarrkonventen, lehnte eine offizielle Berufung jedoch ab, weil das SED-Regime eine unabhängige Seelsorge hinter den Gefängnismauern nicht zuließ. Giebeler war tief gekränkt, denn so gehörte er nirgendwo richtig dazu und wurde von allen Seiten kritisch beäugt. Als "Schattenspieler", so Subklew-Jeutner, versuchte er wenigstens seinem Arbeitgeber gerecht zu werden: der staatlichen Gefängnisverwaltung im Ministerium des Innern der DDR. Vermutlich handelte es sich bei Giebeler aber nicht nur um einen loyalen Staatsdiener, sondern weit mehr noch um einen politischen Überzeugungstäter.
Dies ist umso erstaunlicher, als das Regime ihm und seinen Amtsbrüdern doch viele Steine in den Weg legte. So erschwerten die SED-treuen Gefängnisleiter und Aufseher jede seelsorgerische Tätigkeit nach Kräften, überwachten jede Äußerung der Geistlichen und hielten die Gefangenen mit vielerlei Kniffen von der Teilnahme an den Gottesdiensten ab. Mal wurden nur diejenigen vorgelassen, die sich bereits zum Zeitpunkt der Einlieferung in die Haftanstalt als Anhänger einer Religionsgemeinschaft zu erkennen gegeben hatten, mal wurde zeitgleich mit dem Gottesdienst der einzige Film im Monat vorgeführt. Den Häftlingen zur Begrüßung die Hände zu schütteln wurde nicht gerne gesehen, Vieraugengespräche waren nahezu unmöglich. Zutritt zu den Haftarbeitslagern oder gar Untersuchungshaftanstalten wurde den Gefängnisseelsorgern ohnehin selten bis gar nicht gewährt. Insofern war der Geistliche um seinen Job nicht zu beneiden.
Doch meist hielt er sich streng an die Vorgaben der Gefängnisverwaltung und ermahnte die Gefangenen zu Einkehr und Folgsamkeit. Er argumentierte oft mehr im Sinne der Machthaber als aus moderner Sozialpädagogik heraus und stärkte den Häftlingen nur bedingt den Rücken. So ließ er alle Gefangenen abblitzen, die mit ihren Familien nur unter Überwachung kommunizieren konnten. Genauso politisch loyal zeigte er sich im Gefängnisseelsorge-Konvent, wo er gegenüber den staatlichen Autoritäten auch mal kritischere Töne hätte anschlagen können, statt dessen aber in seinen Vorträgen die Lehrbücher des sozialistischen Strafvollzugs plagiierte. Auch versuchte er die Befürchtungen von Amtsbrüdern über Gefangenenmisshandlung zu entkräften, obwohl er als Insider am besten wusste, dass diese immer wieder vorkamen. Giebeler war sogar bereit, andere Geistliche wie auch weltanschaulich schwankende Aufseher bei der Staatssicherheit anzuschwärzen. Erst als sich im Sommer 1989 die Stimmung in der DDR grundsätzlich änderte, machte er sich auch mal gegen die Staatssicherheit für die Interessen der Gefangenen stark.
Wie gering die Spielräume für die Gefangenenseelsorge in der DDR waren, verdeutlicht die Biographie des erwähnten Hans-Joachim Mund, dem Ziehsohn von Fritz Raddatz. Weil die Gefängnisverwaltung ihre Zusagen auch ihm gegenüber immer wieder brach und seine Sorge um die Häftlinge mit Hohn quittierte, flüchtete er 1956 in die Bundesrepublik und hinterließ einen flammemden Abschiedsbrief an die Autoritäten. Damit bewies er Rückgrat, vermochte für die DDR-Gefangenen jedoch nun nichts mehr zu erreichen. Giebeler, der sich mit den gleichen Problemen konfrontiert sah, blieb jedoch "bei der Stange". Er tat dies wohl aus politischer Überzeugung - und bewegte sich fast immer in dem ihm zugestandenen geringen Spielraum. Und wenn er einmal darüber hinaus ging, folgte er damit oft einem Auftrag der Staatssicherheit. Denn diese ließ ihn gelegentlich Kassiber transportieren oder auf andere Weise gegen die Regeln verstoßen, um die Glaubwürdigkeit ihres wichtigsten und vielseitigsten Gefängnisspitzels zu wahren. Denn seit 1959 stand er als Geheimer Informator (GI) bzw. später als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) "Roland" auf der Gehaltsliste von Erich Mielke - zunächst wohl im übertragenen, später auch im wörtlichen Sinne. So stieß Giebeler bei vielen Gefangenen auf Ablehnung: wegen seiner SED-nahen Haltung, seiner Bereitschaft, die kleinlichen Regeln der Strafvollzugsverwaltung mit durchzusetzen - und weil ihm in vielen Gefängnissen der Ruf eines Spitzels vorauseilte.
Giebelers teils im Auftrag der Staatssicherheit erfolgtes zwiespältiges Wirken ist frühzeitig von der Zeitgeschichtsforschung aufgegriffen worden. [1] Subklew-Jeutner geht jedoch darüber hinaus und seziert akribisch jede öffentliche Wortmeldung wie auch jeden IM-Bericht Giebelers und kann so Widersprüche in seiner Biographie offenlegen. Sie analysiert verschiedene Formen von IM-Tätigkeit, um die Rolle des Geistlichen besser einschätzen zu können und eine Vorverurteilung zu vermeiden. Erkennbar richtet sie ihr Buch auch an die evangelischen Würdenträger, die sich Anfang der 1990er Jahre bei Bekanntwerden von Giebelers IM-Tätigkeit reflexartig hinter den Pfarrer gestellt hatten und seinen vielfachen Verrat an Schutzbefohlenen nicht glauben wollten. Kleinere sachliche Unschärfen - wie die unzutreffende Behauptung, Bautzen II sei eine Haftanstalt der Staatssicherheit gewesen - schmälern das Verdienst der Autorin kaum.
Dass sich Giebeler vor und nach 1989 politisch völlig unterschiedlich äußerte, ist vielleicht weniger überraschend, als die Autorin meint. Aus seinen schuldhaften Verstrickungen fand Giebeler nach der friedlichen Revolution jedenfalls keinen Ausweg mehr, obwohl eine Bitte um Vergebung in der Kirche vielleicht auf vergleichsweise offene Ohren gestoßen wäre. Doch trotz erdrückender und zweifelsfreier Beweise für seine Spitzeltätigkeit hat Giebeler diese stets geleugnet. Vor Bekanntwerden seiner Verstrickung verfasste er 1992 sogar eine Autobiographie, ohne seine Spitzeltätigkeit mit einem Wort zu erwähnen, und ließ sich für sein Engagement für die Gefangenen feiern. Dabei hatte er sich seit 1959 276 Mal mit seinen Führungsoffizieren getroffen und privateste Informationen von Gefangenen weitergetragen. Subklew-Jeutner spricht von "Schuld und Verrat" sowie der Missachtung von Beichtgeheimnis und Amtsverschwiegenheit (18), erkennt mit einer gewissen Milde aber auch die "Geschichte einer persönlichen Tragik" (18) und verweist darauf, dass autobiographische Texte immer "konstruierte Texte" seien (16). Doch so bleiben die von Giebeler vor und nach 1989 gepflegten Narrative tatsächlich "widersprüchlich" (214), die Kontraste zwischen Giebelers eigener Darstellung und der Aktenlage "unüberbrückbar" (15). Von einer extremen Selbstverleugnung und maßlosen Selbstgerechtigkeit, einem beachtlichen Narzissmus und einer Persönlichkeitsspaltung Giebelers zu sprechen, wäre zutreffender gewesen.
Anmerkung:
[1] Vgl. insbesondere Andreas Beckmann / Regina Kusch: Gott in Bautzen. Gefangenenseelsorge in der DDR, Berlin 1994.
Marianne Subklew-Jeutner: Schattenspiel. Pfarrer Eckart Giebeler zwischen Kirche, Staat und Stasi (= Schriftenreihe der Beauftragten des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur; Bd. 12), Berlin: Metropol 2019, 456 S., ISBN 978-3-86331-498-9, EUR 24,00
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