sehepunkte 21 (2021), Nr. 3

Sven Prietzel: Friedensvollziehung und Souveränitätswahrung

Die vorliegende Passauer Dissertation behandelt Preußens außen- wie innenpolitische Entwicklung zwischen dem Tilsiter Frieden 1807 und dem Amtsantritt Hardenbergs als Staatskanzler 1810, ein Thema, das ihr Autor selbst als bereits eingehend erforscht bezeichnet. Er will aber durch einen "multiperspektivischen Ansatz" eine "Darstellung, die Bekanntes aufnimmt und ergänzt, um am Ende etwas Neues abzubilden", erreichen (20f.). Der Begriff Souveränität - begriffsgeschichtlich anhand von Jean Bodin erläutert - soll die Analyse leiten und strukturieren. Neben der außenpolitischen Souveränität geht es vor allem um den etablierten Begriff des Staatsbildungsprozesses (26) bzw. das "innere Gefüge" (165). Fünf Kapitel behandeln das Kriegsgeschehen, die diplomatischen Verhandlungen im Umfeld des Friedensvertrages, das Wiederauftreten der lange zurückgedrängten Stände in den Regionen von der Kurmark bis nach Ostpreußen, die frühen (Verfassungs-)Reformen und parallele öffentlich-diskursive Prozesse, ermöglicht durch die geschwächte Staatsgewalt.

Prietzels Ergebnisse sind weitgespannt, aber folgen in aller Regel dem Hauptstrom jahrzehntelanger Forschung. Außenpolitisch finassierte Preußen zwischen Ost (Russland) und West (Frankreich) (48), ja war Objekt der Flügelmächte, aber wurde als nützlicher Pufferstaat (61, 64, 117) konserviert, also nicht altruistisch von Zar Alexander gerettet (68). Die völlige Niederlage gab den Anstoß für alle Veränderungen, die Prietzel als "derivate Erscheinungen der alles prägenden außenpolitischen Situation" (31f., ähnlich 36f., 272) erscheinen, also weder aus Vorreformen noch unmittelbar aus der Aufklärung, weder aus Ständeaktivitäten noch Herrscher-Einsicht folgten. Die öfter mangelnde Loyalität selbst höchster Beamter zur Hohenzollern-Dynastie wird (174-179) beispielhaft dokumentiert. Die Stände rückten mit der Niederlage in die Funktion als Ersatz-Administratoren bzw. Organisatoren der Kriegskosten-Aufbringung ein, stellten bald auch hochpolitische Forderungen wie die Reaktivierung von Generallandtagen, aber eben exakt ab 1807 (199ff., 298ff.). Bei deren Bewertung schwankt Prietzel, schreibt ihnen aber mehrfach (315f., 365, 367) als Ziele Wahrung eigener alter Privilegien und Verhinderung partizipativer Reformen zu. Nur beiläufig erfährt der Leser, dass Stände in Preußen primär adelige Großgrundbesitzer mit Steuerprivilegien bedeuteten (315f.).

Die wirtschaftliche, vor allem tarifäre Neuorientierung nach dem rigiden friderizianischen Merkantilismus (195-199) ermöglichte Modernisierung, hieß anfangs jedoch weitgehende Indienstnahme für die Ziele Frankreichs, zumal Kontinentalsperre und Empire-Ökonomie. Die stetige Finanzkalamität der Jahre ab 1807, die sich ja bis 1848 hinzog und wegen hoher Kontribution, Requisitionen und Wirtschaftskrise als Volksverarmung empfunden wurde, wird anschaulich dargestellt (259ff.). Zu Recht betont Prietzel den Legitimationsverlust der Monarchie infolge völliger Niederlage und Besatzung, was sich in diversen Unruhen äußerte, und mit Militäreinsatz, vermehrten Majestätsbeleidigungsprozessen (287f.) sowie 1810 der Neustiftung des Krönungs- und Ordensfestes zur Loyalitätsförderung (290f.) bekämpft wurde.

Bei den Reformen erfasst Prietzel zwar die noch ständeorientierten, freilich auch jenseits des Adels für alle Besitzenden gedachten Ansätze unter Stein bzw. Altenstein/Dohna 1807-1810 (303ff.) und belegt, dass sie sich sukzessive Mitsprache von Repräsentanten in Finanzfragen, ja selbst bei Kriegsentscheidungen vorstellen konnten. Hardenbergs umfangreiches und hartnäckiges Wirken ab 1810, zumal im Verfassungsbereich, bleibt aber weitgehend außen vor. [1] Dies wirkt sich auch bei der Beurteilung aus, indem viel von Stärkung der Staatsgewalt durch Reformen die Rede ist, aber die damit zugleich verknüpften Ideen von Rechtsgleichheit und Selbstverwaltung, dosierter Partizipation und Erziehung zu politischer Mündigkeit in den Hintergrund treten. Man kann zwar meinen, es sei den Reformern nicht um Freiheit vom Staat, sondern um "Freiheit zum Staat" (273) gegangen, aber der vorgängige Gestaltwandel der Staatsvorstellung und die Freiheitsidee im reformierten Staat bleiben doch überdeutlich. Auch die im Zusammenhang mit Bürgerrepräsentation verwandte Etikettierung Konsensdiktat (291) erscheint dem Rezensenten als verkürzte Bezeichnung, denn selbst wenn Konsens zwischen Monarchie, Bürokratie und Bürgern Endziel der Reformer war, ging es doch grundsätzlich um Partizipation und argumentative Debatte, nicht bloß Oktroi von oben. Emphase für liberale Bürger-Freiheit lässt der Autor, der Stipendiat der Naumann-Stiftung war und als Referent für die FDP-Bundestagsfraktion arbeitet, kaum erkennen.

Prietzel betont zu Recht (232, 324, 356), dass eine erhebliche Politisierung der Bevölkerung einsetzte und erkennt analog der Forschung die Nation als neue, mit der Krone konkurrierende Legitimationsinstanz, obschon andererseits die "grundsätzliche Bindung der Preußen an die traditionale Herrschaftsform der Monarchie" (163f.) fortbestanden habe. Der charakteristische Widerspruch der Zeit wird erkennbar, wenn einerseits das Königtum als Garant gesellschaftlichen Fortschritts angesehen wurde (334), aber zugleich in Eingaben ständische Gesellschaft, unumschränkte Monarchie, adelige Steuerprivilegien oder friderizianisches Militärsystem kritisiert und politische Teilhabe gefordert wurden (336-338). Wegen der Schaffung von Geheimpolizei und Zensurmaßnahmen sieht Prietzel (356) den "Bruch zwischen Reform und Restauration 1815/22 weit weniger scharf", was den Rezensenten wegen Personalwechseln, deutlichen Verhärtungen und hochkonservativen Politikzielen ab 1819 nicht überzeugt.

Der zehnseitige Schlussteil über außen- und innenpolitische Konfliktlinien 1807-1848 fasst knapp zusammen, aber prätendiert mehr als er leistet, denn weder die Jahrzehnte nach 1815 noch zentrale Konfliktlinien des Vormärz werden genauer betrachtet. Zudem ist der Begriff Parlamentarisierung (145, 249, 362) nicht auf bloße, in Preußen bis 1848 ausgebliebene Verfassungsgebung und Einrichtung einer gesamtstaatlichen Repräsentativkörperschaft anzuwenden, sondern bedeutet staatsrechtlich Regierung gemäß der Parlamentsmehrheit.

Mehrfach kritisiert Prietzel andere historiografische Positionen: Die sozialgeschichtliche Richtung primär Bielefelder Provenienz sei überspitzt-einseitig, von materialistischer Geschichtsauffassung geprägt und teleologisch modernisierungstheoretisch (18f.); R. G. Asch und H. Duchhardt missverstünden Bodins Souveränitätskonzeption (23f.); B. Stollberg-Rilinger - konsequent Rillinger geschrieben - negiere in hyperbolischen Wendungen und schwacher Logik den Staat als Untersuchungsgegenstand (29). Die von Fritz Hartung in den 1940er Jahren verwandte Epochensignatur "Bürokratischer Absolutismus" wird (367) als irrige Vorstellung eines allmächtigen Staatsapparats zurückgewiesen, denn kennzeichnend sei ein steter "Aushandlungsprozess zwischen monarchischem und bürokratischem Element" geworden (362). Thomas Nipperdeys Kennzeichnung von 1983 als "'bürokratisch-monarchische Doppelführung'" hält Prietzel (243) deshalb für zutreffender, obschon auch in Hartungs Begriffsbildung und Darstellung die Monarchen prominent präsent sind.

Lobenswert ist, dass Prietzel für seine Arbeit ca. 200 Aktenbände durchsah, vor allem aus Preußens Außenamt, der Friedensvollziehungskommission und den Ministerien, aber auch aus regionalen Behörden und ansatzweise zwei Nachlässen. Er nimmt zudem die umfänglichen älteren Editionen von Georg Winter bis zur DDR-Historiografie, die einschlägigen Monografien seit Max Lehmann um 1900 sowie diverse neuere Sammelbände zur Kenntnis. Freilich fehlen Heinz Duchhardts Arbeiten zu Stein. [2] Prietzel liefert in gut 1700 Fußnoten manchmal allzu kleinteilig-repetitiv Nachweise, zitiert aber erfreulicherweise und anders als viele Nachwuchshistoriker heutzutage nicht nur Titel, sondern benennt auch exakt Seitenzahlen, was gegen Behauptungen diszipliniert und die Nachprüfung erleichtert.

Insgesamt liefert Prietzel eine durchaus fleißige Qualifikationsarbeit, die breite Themenfelder der Jahre 1807-1810 analytisch vermisst und auch thesenfreudig ist. Aber selbst mit dem Leitbegriff der Souveränitätswahrung gelangt er nicht über den Forschungsstand zur Reformzeit [3] hinaus und neigt nach Ansicht des Rezensenten aufgrund des beschränkten Betrachtungszeitraums gelegentlich zu verkürzten Einschätzungen.


Anmerkungen:

[1] Vgl. den von Prietzel zwar annotierten, aber nicht argumentativ rezipierten Christian Schmitz: Die Vorschläge und Entwürfe zur Realisierung des preußischen Verfassungsversprechens 1806-1819. Eine rechtliche Bilanz zum Frühkonstitutionalismus der Stein-Hardenberg'schen Reformzeit, Göttingen 2010.

[2] Heinz Duchhardt: Stein. Eine Biographie, Münster 2007, bes. 178-235; ders. (Hg.): Mythos Stein. Vom Nachleben, von der Stilisierung und von der Instrumentalisierung des preußischen Reformers, Göttingen 2008.

[3] Vgl. u.a. Handbuch der preußischen Geschichte, Bd. 2, hg. von O. Büsch, Berlin 1992, 19-38 (Ilja Mieck). Für Hardenberg ist jetzt aber der in Anm. 1 genannte Schmitz unabdingbar.

Rezension über:

Sven Prietzel: Friedensvollziehung und Souveränitätswahrung. Preußen und die Folgen des Tilsiter Friedens 1807-1810 (= Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte; Bd. 53), Berlin: Duncker & Humblot 2020, 408 S., ISBN 978-3-428-15850-8, EUR 99,90

Rezension von:
Hartwin Spenkuch
Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Hartwin Spenkuch: Rezension von: Sven Prietzel: Friedensvollziehung und Souveränitätswahrung. Preußen und die Folgen des Tilsiter Friedens 1807-1810, Berlin: Duncker & Humblot 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 3 [15.03.2021], URL: https://www.sehepunkte.de/2021/03/35099.html


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