Die Geschichte der deutsch-italienischen Beziehungen und Verflechtungen sowie der gegenseitigen Wahrnehmung beider Länder stellt seit mehreren Jahrzehnten ein beliebtes und fruchtbares Forschungsfeld dar. Historikerinnen und Historiker auf beiden Seiten der Alpen haben dazu zahlreiche Thesen aufgestellt, wie etwa diejenige der "parallelen Wege", der "verspäteten Nationen" oder der "fernen Nachbarn". Dabei wurde etwa das vom bekannten italienischen Deutschland-Experten Gian Enrico Rusconi vorgeschlagene Paradigma der "schleichenden Entfremdung" kontrovers diskutiert. [1] Dieser Topos ist für die Erforschung der Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte beider Länder nach 1989 besonders wichtig, denn das Ende der "parallelen Wege" und der schleichende Entfremdungsprozess habe laut mehreren Historikerinnen und Historikern erst mit dem Fall der Berliner Mauer und der Wiedervereinigung eingesetzt.
Der Band von Deborah Cuccia, der unter anderem das Ziel hat, die Hypothese der "schleichenden Entfremdung" in Frage zu stellen, stützt sich auf jene ergiebige deutsch-italienische historiographische Tradition, die in letzter Zeit dazu neigt, die Parallelismen abzumildern und dementsprechend die Differenzen zu akzentuieren. Zudem versteht sich das Buch als Beitrag zur Forschung über die Reaktionen in verschiedenen europäischen Staaten auf die deutsche Wiedervereinigung. Auch hier geht es vor allem um eine Geschichte der deutschen Wiedervereinigung: "[T]he process of the German 'Reunification/Unification' is the main subject of this study. Its specific focus lies on the Italian actions and reactions ". (11)
Die chronologisch aufgebaute Studie besteht aus zwei Hauptteilen, die einer längeren Einführung folgen: Der erste Teil (Kapitel 4, 5 und 6) analysiert die deutsch-italienischen Beziehungen zwischen 1979 und 1988. Die Kapitel 4 und 5 behandeln die diplomatischen, Kapitel 6 die kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen. Der zweite Teil (Kapitel 7, 8 und 9) widmet sich dem eigentlichen Thema der Arbeit: Die italienische Wahrnehmung der "Wende" und die Reaktionen der politischen Elite auf die deutschen Ereignisse von 1989/90. Hier wird gefragt, wie vorbereitet die italienische politische Elite und Öffentlichkeit auf den Umbruch nicht nur in Ostdeutschland, sondern in ganz Osteuropa waren. Im Gegensatz zu bisherigen Studien, die der italienischen Diplomatie vorgeworfen haben, die Transformationsprozesse im Osten unterschätzt zu haben, stellt Cuccia heraus, dass schon Mitte der 1980er Jahre das italienische Außenministerium die Lage in Osteuropa beobachtet und angemessen beurteilt habe. Trotzdem, so Cuccia, sei Roms Haltung und insbesondere die des damaligen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti schwankend und widersprüchlich geblieben, was sich nicht zuletzt auf innenpolitische Gründe zurückführen lasse. Auf der einen Seite versuchte die italienische Regierung, die guten Beziehungen zu Bonn aufrechtzuerhalten; auf der anderen bemühte sich vor allem Andreotti, den Prozess der Wiedervereinigung zu verlangsamen, ohne sich ihr jedoch in den Weg zu stellen. Cuccias Schlussfolgerungen entsprechen dem, was schon den Zeitgenossen klar war und was der italienischen Forschung, die sich in den letzten Jahren mit dem Ende des Kalten Kriegs auseinandergesetzt hat, ebenfalls bekannt ist. So unterstrichen bereits mehrere Historiker und Historikerinnen nicht nur die Ambivalenz der italienischen Strategie, sondern auch die Ohnmacht der Regierung in Rom, deren Außenpolitik sich nur in sehr engen Grenzen entfalten konnte. [2]
Die Ebene der politischen Elite Italiens ist zwar die wichtigste, aber - was ein besonderer Verdienst des Werks ist - nicht die einzige, die die Autorin betrachtet. Andere Akteure bereichern die klassische Perspektive der Diplomatiegeschichte: die Öffentlichkeit/opinione pubblica (immer ein wichtiger Faktor der deutsch-italienischen Beziehungen), die Presse, die Parteien und die Wissenschaft. Vor allem im zweiten Teil bleibt die Arbeit dennoch in erster Linie eine Geschichte der Diplomatie, teilweise auch eine "histoire événementielle", die höchst akribisch den Verlauf der diplomatischen Verhandlungen schildert. Sehr große Relevanz haben also im Buch die Entscheidungen und Strategien der einzelnen italienischen Politiker und Diplomaten - insbesondere des Staatspräsidenten Francesco Cossiga, des Außenministers Gianni De Michelis und des Ministerpräsidenten Andreotti. Vor allem hier liegt der Mehrwert des vorliegenden Werkes, das auf einer mehr als soliden Quellenlage sowie fundierten Kenntnissen der einschlägigen Literatur basiert und durch mehrere interessante persönliche Gespräche der Autorin mit italienischen und deutschen Diplomaten, Politikern und Journalisten angereichert ist: Die Arbeit bildet ein wertvolles Instrument für Forscherinnen und Forscher, die sich künftig mit dem Thema auseinandersetzen wollen.
Anmerkungen:
[1] Gian Enrico Rusconi: Le radici politiche dell'estraniazione strisciante tra Italia e Germania, in: Gian Enrico Rusconi / Thomas Schlemmer / Hans Woller (a cura di): Estraniazione strisciante tra Italia e Germania?, Bologna 2008, 11-18 (deutsche Ausgabe: Gian Enrico Rusconi / Thomas Schlemmer / Hans Woller (Hgg.): Schleichende Entfremdung? Deutschland und Italien nach dem Fall der Mauer, München 2008).
[2] Gabriele D'Ottavio: 1989 oder das Ende der "parallelen Geschichten" Deutschlands und Italiens?, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 67 (2016), 39-57; Antonio Varsori: L'Italia e la fine della guerra fredda. La politica estera dei governi Andreotti (1989-1992), Bologna 2013.
Deborah Cuccia: There are two German States and two must remain? Italy and the long Path from the German Question to the Re-unification (= Historische Europa-Studien - Geschichte in Erfahrung, Gegenwart und Zukunft; Bd. 22), Hildesheim: Olms 2019, XIV + 392 S., 18 s/w-Abb., ISBN 978-3-487-15810-5, EUR 58,00
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