Während die formelle Ächtung des Antisemitismus allgemein Konsens ist, bestehen nach wie vor erhebliche Differenzen hinsichtlich der Frage, was überhaupt als Antisemitismus zu gelten habe. Einen zentralen Bereich bildet dabei die sogenannte Israelkritik, also die Auseinandersetzung über die Verfasstheit und das politische Handeln des jüdischen Staates: Wann hat sie als legitim zu gelten und wo überschreitet sie die Grenze zu antisemitischen Denkformen? Der Publizist Alex Feuerherdt und Florian Markl, wissenschaftlicher Leiter des Wiener Nahost-Thinktanks "Mena-Watch", haben ein Buch vorgelegt, das sich mit einem ebenso exponierten wie umstrittenen Akteur auf diesem Feld befasst: der Israel-Boykottbewegung BDS (Boycott, Divestment and Sanctions).
Neu ist in der deutschsprachigen publizistischen Landschaft weder die Auseinandersetzung mit dem Phänomen BDS noch seine Rubrizierung als Erscheinungsform des zeitgenössischen Antisemitismus. Feuerherdt und Markl sind jedoch die Ersten, die BDS eine Monografie widmen. Bereits im knappen einführenden Abschnitt macht das Autorenduo deutlich, dass es ihm in den folgenden sechs Kapiteln um den Nachweis geht, bei BDS handle es sich um eine "antisemitische Kampagne". (12) Zwei eröffnende Kapitel widmen sich der Vorgeschichte der Bewegung, ein weiteres nimmt die Umstände ihrer Gründung unter die Lupe. Der folgende Abschnitt möchte anhand zweier gängiger Definitionen von Antisemitismus die Frage beantworten, weshalb BDS antisemitisch ist. Die beiden abschließenden Kapitel enthalten eine Übersicht über die Aktivitäten von BDS in ausgewählten Ländern beziehungsweise bilanzieren das bisherige Wirken der Bewegung.
Neben der Einordnung von BDS in einen politischen und historischen Zusammenhang dienen die ersten Abschnitte vor allem der Widerlegung der Gründungserzählung, die sich BDS gegeben hat. Letztere legt eine spontane Formierung als Reaktion auf einen "Aufruf der palästinensischen Zivilgesellschaft von 2005" nahe. [1] Feuerherdt und Markl verorten die Wurzeln von BDS demgegenüber einerseits in dem über Jahrzehnte andauernden, mitunter antisemitisch auftretenden Boykott der Arabischen Liga gegen direkt und indirekt mit Israel Handel treibende Firmen. Aufschlussreich lesen sich hier auch die Reaktionen der von arabischer Boykottgesetzgebung betroffenen Staaten. So ließ sich etwa die Bundesrepublik Deutschland bis 1992 Zeit, um den Maßnahmen mit eigener Anti-Boykott-Gesetzgebung zu begegnen.
Andererseits war die Gründung von BDS hinsichtlich Motiven, Akteuren und Vokabular mittelbar eine Folge des im September 2001 parallel zur UN-Weltkonferenz gegen Rassismus im südafrikanischen Durban stattfindenden NGO-Gipfels. Diesen Zusammenhang schildern die Autoren im dritten Kapitel und lassen die Verbindungslinien von dieser Zusammenkunft, die in ein Tribunal gegen Israel ausartete, zum Gründungsmanifest von BDS deutlich werden. Gegenstand des folgenden vierten Abschnitts ist ebenjenes Manifest. Feuerherdt und Markl untersuchen seine Kernforderungen detailliert und kommen zu dem Schluss, dass sie mit dem vorgeblichen Ziel der Bewegung, Israel qua Boykott zu zwingen, "internationalem Recht" nachzukommen [2], nicht vereinbar sind. Vielmehr zielen sie auf die Beseitigung Israels als jüdischem Staat.
Im fünften Kapitel, dem längsten Abschnitt, diskutieren die Autoren zunächst zwei verbreitete theoretische Annäherungen: die Arbeitsdefinition Antisemitismus, die von der International Holocaust Remembrance Alliance übernommen wurde, und das 3-D-Modell des ehemaligen Vorsitzenden der Jewish Agency, Natan Sharansky. In der sukzessiven Anwendung kommen die Autoren anhand zahlreicher, unterschiedlichen Teilen der Bewegung entnommener Beispiele zu dem Schluss, dass BDS im Kern antisemitisch ist.
Die beiden abschließenden Kapitel befassen sich regional und zeitlich mit dem Wirken von BDS. Dabei wird deutlich, dass die Schwerpunkte der Bewegung in den angelsächsischen Ländern, und hier vor allem in akademischen und kulturellen Bereichen liegen. Eine Reihe von Organisationen, so zum Beispiel die britische Hochschullehrergewerkschaft, hat sich ihr angeschlossen. Zahlreichen militanten und gut sichtbaren Gruppen und Aktivistinnen und Aktivisten steht jedoch eine Mehrheit derjenigen entgegen, die den Boykott nicht unterstützen. Auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet ist BDS bislang nahezu wirkungslos geblieben - und angebliche Erfolge wie die Schließung von Unternehmensstandorten im Westjordanland zeitigen zumal für die betroffenen palästinensischen Arbeiterinnen und Arbeiter eindeutig negative Auswirkungen.
Einige Schwachstellen der Studie sollen nicht verschwiegen werden. So muss man in das Lob Israels als einer wirtschaftlich "höchst innovativen 'Start-up-Nation'" (16) nicht einstimmen: Mit den technologischen Erfolgen einher geht auch ein internationaler Spitzenrang bei der Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen. Des Weiteren besteht der zweite Teil des fünften Kapitels aus länglichen Ausführungen über die Bedeutung Israels für das zeitgenössische Judentum. Sie wirken deplatziert, weil sie zu versuchen scheinen, sich mit den antisemitischen Argumenten der Gegner des jüdischen Staates auseinanderzusetzen, was die Studie sonst aus guten Gründen vermeidet. Der Platz hätte sinnvoller verwendet werden können: So begnügen sich die Autoren im ersten Teil dieses zentralen fünften Abschnitts mit einem eher kursorisch anmutenden Überblick zum Beleg ihrer Hauptthese vom Antisemitismus von BDS. Das auch für Feuerherdt und Markl "zugegebenermaßen harsche Urteil" (12) hätte eine systematischere Befassung mit den Verlautbarungen der Bewegung bzw. angeschlossener Gruppen verdient gehabt. Zudem wäre eine Beleuchtung etwaiger Unterschiede oder Debatten über das Thema Antisemitismus innerhalb des ja recht heterogenen Spektrums der unter dem Label BDS agierenden Gruppen (gerade der nicht-palästinensischen) wünschenswert gewesen. Von beidem hätte das Verdikt der Autoren profitieren und an Kontur gewinnen können.
Feuerherdt und Markl haben ein gelungenes Buch zur rechten Zeit geschrieben. Für Historikerinnen und Historiker bietet es mehr als einen niedrigschwelligen Einstieg in Antisemitismusdebatten der jüngsten Zeit: "Die Israel-Boykottbewegung" ist ein historisch überzeugend kontextualisiertes Stück Geschichtsschreibung des Antisemitismus und wartet - neben der beachtlichen Menge aufgearbeiteten Materials - gerade hier mit reichlich Anknüpfungspunkten für weitergehende Forschungen auf. In seinem Geleitwort formuliert der FDP-Bundestagsabgeordnete Frank Müller-Rosentritt die Quintessenz aus Feuerherdts und Markls Analysen: Aufgrund ihres antisemitischen Charakters sei die BDS-Bewegung für den Nahen Osten "kein Friedensprojekt, [sondern] ein Friedenshindernis" (9). Dieser Einschätzung ist nach der Lektüre dieser schonungslosen und stringenten Analyse zuzustimmen.
Anmerkungen:
[1] Website der BDS-Kampagne; http://bds-kampagne.de/ (letzter Zugriff: 12.03.2021).
[2] Ebd.
Alex Feuerherdt / Florian Markl: Die Israel-Boykottbewegung. Alter Hass in neuem Gewand, Berlin / Leipzig: Hentrich & Hentrich 2020, 196 S., ISBN 978-3-95565-396-5, EUR 19,90
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