Beim vorliegenden Sammelband handelt es sich um die Beiträge zur 6. Jahrestagung des in Berlin beheimateten SFB 980 "Episteme in Bewegung" [1] aus dem Jahr 2018. Erschienen ist die Sammlung als 18. Band der eigenen Veröffentlichungsreihe des SFBs. Über die reine Dokumentation der Aktivitäten des SFBs hinaus formulieren die Herausgeber:innen in der Einleitung allerdings den Anspruch, die Beiträge seien durch "ein gemeinsames heuristisches Konzept" zusammengehalten (1). Bei diesem Konzept handelt es sich um das der "Wissensoikonomien", mit dem sich die gleichnamige Konzeptgruppe VII des Sonderforschungsbereichs federführend befasst. [2] Was mit "Wissensoikonomie" gemeint sein soll, wird aber nur sehr knapp und wenig trennscharf umrissen. In bewusster Anlehnung an das vormoderne Konzept des 'oikos' sollen Systeme von Wissen und Praktiken als solche gesehen werden, als "Haus des Wissens", ein jeweils "in sich dynamisches Gebilde, das auf sich selbst bezogen und in sich in Bewegung ist, ohne sich dadurch von anderen Beziehungen auszuschließen." (5-6). Diese abstrakten oikoi "generieren hingegen Prozesse der Deutung, der Vermittlung und der Pragmatik. Damit haben sie eine Widerständigkeit und Prekarität, aber auch einen Bedeutungsüberschuss." (7). Das ist hinreichend allgemein, um alles beschreiben zu können. Umso mehr gilt es also zu klären, ob der Band seinen Anspruch einlösen kann. Außerdem ist zu fragen, ob das vorgeschlagene Konzept einen analytischen Mehrwert bietet.
Der Band versammelt unter vier Rubriken - "Netzwerke: Wandel in der longue durée, Reziprozitäten"; "Strukturen der Ordnung und ihre Beschreibung"; "Temporalität, Materialität und Ritual"; "Antagonismen, Negation, Transgression" - insgesamt 16 Beiträge aus den verschiedenen Disziplinen des SFBs. Es finden sich Aufsätze aus der Theologie, der Literaturwissenschaft, den Jüdischen Studien, der Ägyptologie, der Wirtschaftsgeschichte, der Arabistik, der Geschichtswissenschaft, der Sinologie und der Koreanistik. Mehrere Beiträge versammeln drei bis vier Beispiele, die dementsprechend jeweils nur sehr kurz angerissen werden. In den meisten Fällen handelt es sich nicht um originär für diesen Band entstandene Arbeiten, sondern um die Verarbeitung anderer Veröffentlichungen der Autor:innen, die hier unter das titelgebende Paradigma der "Wissensoikonomien" gestellt werden sollen. Das geschieht jeweils durch eine kurze Erläuterung, warum die jeweiligen Beispiele sich für eine solche Betrachtung anbieten, und ein kurzes abschließendes Resümee, das zeigen soll, dass die Beispielfälle als "Wissensoikonomien" betrachtet werden können.
Wie in Sammelbänden üblich, sind die Beiträge von unterschiedlicher Qualität, behandeln aber durchweg interessante Themen. Der Kürze der Beiträge, der Diversität der Beispiele und ihrem Charakter als Auszüge aus anderen, größeren Arbeiten halber ist eine inhaltliche Bewertung der empirischen Grundlagen hier nicht möglich. Es gibt jedoch keinen Grund, die fachliche Expertise der Beiträger:innen zu bezweifeln. Wichtiger ist die Prüfung ihrer Verknüpfung durch die gemeinsame Heuristik und deren analytischen Mehrwert.
Aus hermeneutischer Sicht fungiert der Begriff "Wissensoikonomie" hier vor allem klassifikatorisch, nicht analytisch. Verschiedenste Phänomene werden betrachtet und daraufhin geprüft, ob sie unter diesen Oberbegriff subsumiert werden können, und stets wird festgestellt, das sei der Fall. Weitergehende Schlussfolgerungen werden daraus kaum gezogen. Hier werden also Bausteine für eine induktive Generalisierung gesammelt, aufgrund deren ein Begriff von "Wissensoikonomie" erarbeitet werden könnte, der dann wiederum als analytisches Konzept genutzt werden könnte. Dieser zweite Schritt der näheren Bestimmung und analytischen Nutzung findet sich im Band nicht. Das mag der in der Einleitung nur sehr unscharfen Bestimmung des Konzeptes geschuldet sein.
Anstatt den gut eingeführten Begriff der Wissensökonomie zu verwenden, hebt der Ansatz des Bandes sehr dezidiert darauf ab, zur Markierung seines Konzeptes von "Wissensoikonomie" zu sprechen. Das wird allerdings wenig konsequent umgesetzt. Die englischsprachigen Beiträge schreiben nahezu durchgängig "economy of knowledge", anstatt analog zu "oi(c/k)onomy" zu greifen. Als Ausnahme tritt in einem Fall die wirklich scheußliche Neubildung "Bibliothoiconomy" auf. [4]
Orientieren soll sich das Konzept an der "globalhistorisch orientierten Wissen(schafts)geschichte, System- und Netzwerktheorie und der Transkulturalitätsforschung" (2). Das wird allerdings nur deklamatorisch behauptet und nicht argumentativ gestützt. Eine Auseinandersetzung mit anderen Konzepten und der bereits vorhandenen Literatur findet nur sehr punktuell statt. Vorwürfe, z.B. gegenüber der Netzwerkanalyse, werden pauschal formuliert und nicht belegt (7). Es findet keine Auseinandersetzung mit den Ergebnissen des Heidelberger SFB 933, "Materiale Textkulturen", statt, obwohl die bearbeiteten Fragestellungen in sehr ähnliche Richtungen gehen. [3] Eine Abgrenzung zu diskursanalytischer Wissen(schafts)geschichte fehlt völlig.
Dabei sind gerade solche Neuformulierungen begründungsbedürftig. Es ist nun nicht so, als herrschte in der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte ein Mangel an heuristischen Konzepten. Um ein neues zu begründen, muss gezeigt werden, dass es gegenüber den bereits vorhandenen einen analytischen Mehrwert bietet und nicht bloß einen neuen Terminus einführt. Sonderforschungsbereiche sind allerdings gehalten, Ergebnisse zu produzieren. Und die Einführung einer neuen Heuristik lässt sich gut als eines ausflaggen.
Möglicherweise ist eine solche Konzeption auch dem Reihenformat geschuldet. Bereits der erste Band aus dem Jahr 2015 ging ebenso vor. Auch hier war die Einleitung sehr kurz und bot keine arbeitspraktisch nutzbare Definition des zugrundeliegenden Konzepts, nur eine knappe Beschreibung. [5] Das wäre aber lediglich eine Erklärung, keine Entschuldigung. Wenn das Reihenformat eine derartige Verkürzung der Konzepte erzwingt, ist es schlecht gewählt.
Grundsätzlich vermittelt der Band auch abseits der teminologischen Inkonsistenz den Eindruck, dass die Redaktion gründlicher hätte sein können: In nahezu jedem Beitrag gibt es Sätze, die grammatikalisch schief sind, in denen Worte fehlen, Tipp- oder Rechtschreibfehler nicht korrigiert wurden (besonders auffällig "flowed" statt "fluid" auf S. 60).
Bietet das Konzept der "Wissensoikonomien" denn nun einen analytischen Mehrwert? Nach Auffassung des Rezensenten nach der Lektüre des Bandes: Nein, zumindest nicht in der hier vorliegenden Form. Um zu einer wissensökonomischen Beschreibung zu greifen: Das hätte man mit einer diskursanalytisch-praxeologisch orientierten Heuristik billiger haben können. Auch dafür gibt einen bereits gut eingeführten Begriff: Scheininnovation. Die Einzelbeiträge versammeln einen bunten Strauß interessanter, wenn auch sehr knapp gehaltener Beispiele, aber an ihrer übergreifenden Integration scheitert der Band.
Anmerkungen:
[1] https://www.sfb-episteme.de/.
[2] https://www.sfb-episteme.de/konzept/konzeptgruppen/index.html.
[3] https://materiale-textkulturen.de/.
[4] Miltos Pechlivanos: Bibliothoiconomy. Greek homines novi in the Ottoman Tulip Era, in: Wissensoikonomien. Ordnung und Transgression in vormodernen Kulturen, hg. von Niklas Pissis [u.a.], Wiesbaden 2021 (= Episteme in Bewegung. Beiträge zur einer transdisziplinären Wissensgeschichte; 18), 161-178.
[5] Eva Cancik-Kirschbaum / Anita Traninger: Einführung, in: Wissen in Bewegung. Institution - Iteration - Transfer, hg. von ders., Wiesbaden 2015 (= Episteme in Bewegung. Beiträge zu einer transdisziplinären Wissensgeschichte; 1), 1-14.
Nora Schmidt / Nikolas Pissis / Gyburg Uhlmann (Hgg.): Wissensoikonomien. Ordnung und Transgression vormoderner Kulturen (= Episteme in Bewegung. Beiträge einer transdisziplinären Wissensgeschichte; Bd. 18), Wiesbaden: Harrassowitz 2021, VIII + 324 S., 7 s/w-Abb., ISBN 978-3-447-11510-0, EUR 68,00
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