In ihrer Einleitung stellen Matthias Bähr und Florian Kühnel fest, dass "Unterscheidungen und Kategorienbildung" [...] "ein konstitutives Element von Gesellschaft" seien (9) und dass die verschiedenen Kategorien dieser Abgrenzung, z.B. Geschlecht, Ethnizität, sozialer Status oder Alter, als verschränkt zu verstehen seien. Mit diesem Band verorten sie das Konzept Intersektionalität konsequent in der Frühen Neuzeit. Spannend sind die Überlegungen der rekursiven Bedeutung solch einer Übertragung: Was bedeutet es für die Theoriebildung zur Intersektionalität, wenn es sich erweist, dass Kategorien und ihre Verschränkung epochenspezifisch sein können?
In ihrem konzeptionell-theoretischen Aufsatz dröselt Kerstin Palm die Entwicklung der Intersektionalitätsforschung aus dem US-Kontext auf: Zunächst standen gender, class und race im Mittelpunkt. Palm stellt heraus, dass die Kategorien sozialer Ungleichheit auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sein können. Sie unterscheidet die Identitäts-, die Struktur- und die Repräsentationsebene.
Am Fallbeispiel frühneuzeitlicher Hofzwerge zeigt Eva Seemann, wie das Konzept der Intersektionalität als Frageperspektive und Untersuchungsraster Denkräume über offensichtliche Differenzkategorien hinaus ermöglicht. Hofzwerge waren, wie sie zeigt, nicht einfach exotische Kuriositäten an frühneuzeitlichen Höfen, sondern hatten ein Amt in der Hofordnung. Um dieses Amt zu erlangen, spielte Körpergröße eine Rolle, war aber alleine nicht ausschlaggebend. Als Zwerg wurde man nicht geboren, sondern man wird Zwerg oder Zwergin im Laufe des Lebens. 'Zwerg' ist keine quasi-natürliche Kategorie, sondern "eine historisch spezifische Personenkategorie".
Mareike Böth, die sich mit Glücksratgebern des 18. Jahrhunderts befasst, zeigt beeindruckend, wie der intersektionale Zugang auch die soziale Wende der Sattelzeit greifen kann: Die göttliche Legitimation der sozialen Hierarchie begann zu bröckeln, während eigener Einsatz und Arbeitswilligkeit mehr Bedeutung für die Zuschreibung sozialer Positionierung gewannen. Die bürgerliche Produktions- und Familiengestaltung machte die Frau in ihrer sozialen Positionierung aber auch immer abhängiger von ihrem Ehemann. Die für die Moderne typische Assoziierung von Mensch und Mann setzte ein und entsprechend die androzentrischen Maßstäbe, die als unmarkiert und universalisiert verstanden werden. Außerdem erweitert Böth das Konzept der Intersektionalität um das Konzept der 'intersectional invisibility' und kann so Prozesse der Sichtbar- oder Unsichtbarmachung besser herausarbeiten.
Martin Christ operationalisiert den Ansatz des "Labeling" mit einer Intersektionalitätsanalyse. An verschiedenen Beispielen zeigt er auf, wie uneindeutig die Definition 'Sorbe' war. Dies zeigt sich insbesondere bei der vergleichenden Untersuchung verschiedener Wendenpassus, d.h. Passagen in städtischen Urkunden, die 'den Sorben' den Zugang zur Stadt oder den Gilden verboten oder zumindest erschwerten. Erst die Verschränkung der Kategorien Ethnizität, Stand, gender und Konfession erklärt die soziale Positionierung der Betroffenen. Damit zeigt Christ spezifisch vormoderne Verflechtungsmöglichkeiten auf, die durch die Intersektionalität sichtbar wurden. Ein weiterer wichtiger Befund ist, dass Kategorien der Ungleichheit sich nicht nur verstärken, sondern auch überwunden werden konnten: Lutherischen sorbischen Pastoren konnte durch die Kenntnis des Sorbischen der Aufstieg gelingen.
In dem Aufsatz von Alexander Drost zu Batavia steht das Verhältnis zwischen Prädikanten, Kompanie und der Ordnung der kolonialen Gesellschaft im Mittelpunkt. Niederländisch-reformierte Moral- und Ordnungsvorstellungen von Ehe und Geschlechterrollen wurden auf die asiatischen Kolonien übertragen. Durch den intersektionalen Ansatz kann er die große Bedeutung der Kategorien Religion und Geschlecht in ihrer Verschränkung aufzeigen, die dann durch ökonomische Kategorien noch weiter verschärft wurden. Damit kann Drost eine wichtige These der Forschung durch eine weiterführende Verbindung der Kombination des bordering-Konzeptes mit seinem intersektionalen Ansatz schärfen. An diesem sorgfältig argumentierenden Artikel irritiert die wiederholte schiefe Zeichnung der Geschlechtergeschichte in Bezug auf intersektionale Forschungsperspektiven. 'Gute' Arbeiten der Geschlechtergeschichte haben Geschlecht schon sehr lange mehrfach-relational und verschränkt gesehen und sich eben nicht auf die Kategorie 'Geschlecht' begrenzt.
Florian Kühnel überprüft den Mehrwert intersektionaler Ansätze in einer Analyse der Natural History of Aleppo. Aufbauend auf Kosellecks asymmetrischen Gegenbegriffen nutzt Kühnel zunächst die Paare Kultur/Zivilisation, Nation/Untertanenschaft, Stand, Religion/Konfession und Geschlecht, um die nicht ganz neue Frage nach der Wahrnehmung von Differenz und Fremdheit herauszuarbeiten. Im zweiten Teil des Aufsatzes wird die Bedeutung der Differenzkategorien in konkreten Praktiken nachgezeichnet. So machte die osmanische Verwaltung europäische Kaufleute, die einheimische Christinnen heirateten, vom müste'min zum zimmi, d.h. sie wurden zu Untertanen des Sultans. Die Leitkategorie Religion wurde also durch die Kategorie Untertanenschaft unterlaufen.
Vera Kallenberg analysiert den Fall des Frankfurter Schutzjudensohns Heyum Windmühl der wegen "Notzucht" an einem christlichen Mädchen angezeigt wurde. Mit einer intersektionalen Perspektive wird untersucht, ob das übersexualisierte 'Jüdisch-Sein' Windmühls ausschlaggebend für dessen Verurteilung war. Neben dem 'Jüdisch-Sein' erweisen sich die Kategorien Aufenthaltsstatus, sozialer Status, sozio-ökonomische Ressourcen, Ehrvermögen und Geschlecht als zentral.
Matthias Bähr veranschaulicht am Beispiel des nach England immigrierten Richard Boyle die Potentiale eines intersektionalen Zugriffs, indem er am Beispiel der Grablegung von Boyles' Ehefrau Catherine, familiären Hochzeits-, Erziehungs-, und Patronagestrategien verdeutlicht, dass Boyles Handeln dem Puritanismus zum Teil widersprach. Repräsentationen von Irishness bestimmten dagegen sein Handeln situativ derart, dass die konfessionelle Motivation in den Hintergrund trat. Erst wenn andere Kategorien, wie Stand und Ethnizität, hinzugezogen werden, kann die Rolle von Religion als Kategorie beurteilt werden.
Tim Neu nähert sich dem Sukzessionsstreit um Anna von Hessen aus dem 16. Jahrhundert, die als Regentin für ihren Sohn agieren sollte, indem er versucht, das Handeln Annas intersektional sowie mit der Hegemonie- und Markierungstheorie auszudeuten. Die Fürstin habe sich den 'Markierungen' ihrer politischen Gegner (Alter, Geschlecht und Herkommen, im Sinne von Tradition) bewusst durch 'Undoing Difference' entzogen: Sie ergriff etwa bei Beratungen über das weitere Vorgehen mehrmals das Wort und ließ sich nicht auf die Thematisierung der Kategorien ein, die ihre Gegner vorbrachten. Anna handelte, 'als-ob' sie nicht markiert wäre, schuf so zunehmend eine Realität, die schließlich politische Wirkmacht erlangte.
Rachel Renault untersucht die Steuerverteilung anhand zweier Fallbeispiele. Intersektionalität berge Potentiale für die Untersuchung einer Gesellschaft, der nicht 'Gleichheit', sondern 'Ungleichheit' als Strukturprinzip inhärent sei. Die 'klassische' Trias von race, class, gender müsse dabei zugunsten anderer Differenzkategorien aufgegeben werden. Kenntnisreich stellt die Autorin Diskurse über (Un-)Gleichheit in der Frühen Neuzeit vor und zeigt (Un-)Gleichheitsvorstellungen, die Staatstheoretiker wie etwa Justi in den Diskurs einbrachten. Die Figur des 'Untertanen' habe in der Praxis die heterogene Gruppe der Steuerpflichtigen vereinheitlicht.
Ulrike Ludwig wendet sich der Verschiebung von Kategorien in der Geschichte des Duells zu. Die Vorstellungen des Duells aus dem 19. Jahrhundert als rein männliches, einer Elite vorbehaltenes Phänomen präge weiterhin den Blick. Die Verflechtung der Kategorien für das Duell sei jedoch umstritten. Es war in der Frühen Neuzeit stärker auf die Repräsentation von ständeübergreifender Männlichkeit angelegt. Überhaupt sei auch jenseits des Duells darüber zu diskutieren, ob und wie diese Befunde, die sich auch in anderen Arbeiten mit intersektionalem Ansatz fänden, für die gesamte Frühe Neuzeit verallgemeinert werden könnten.
In ihrem Kommentar führt Xenia Tippelskirch die Ergebnisse der Einzelbeiträge facettenreich zusammen und öffnet den Blick für weitere Perspektiven der Forschung. Sie zeigt neben den Potentialen auch Probleme auf, die im Kontext von Intersektionaliät berücksichtigt werden müssen: Differenzkategorien könnten sich im Laufe der Zeit wandeln und dies sei besonders für die Erforschung der Frühen Neuzeit zu berücksichtigen. Aber auch die Relationen der Kategorien zueinander seien stets aufs Neue zu befragen, um historischen Wandel zu untersuchen. Intersektionalität erzeuge keine einheitlichen Narrative und die "Übersetzung" (368) von ineinander verschränkten Kategorien in einen linearen Text stelle eine große Herausforderung für diese Forschungsperspektive dar. Zuletzt dürfe man die bisherigen Forschungen der Geschlechtergeschichte nicht vernachlässigen, sondern eher von ihnen lernen und Aspekte übernehmen: Ansätze wie "Geschlecht als mehrfachrelationale Kategorie" verfolgten das gleiche Ziel wie die Intersektionalität.
Insgesamt bietet der Band ein breites Panorama an mit intersektionalen Ansätzen untersuchten Fallbeispielen. Spannend ist, wie Intersektionalität als Analyseperspektive mit anderen Theorie- und Methodikangeboten kombinierbar ist. So bietet der Band einen breiten Blick auf die Möglichkeiten und Notwendigkeiten, Differenzkategorien für die Frühe Neuzeit zu historisieren und in ihrer Verflochtenheit zu betrachten.
Matthias Bähr / Florian Kühnel (Hgg.): Verschränkte Ungleichheit. Praktiken der Intersektionalität in der Frühen Neuzeit (= Zeitschrift für Historische Forschung; Beiheft 56), Berlin: Duncker & Humblot 2018, 372 S., 2 s/w-Abb., ISBN 978-3-428-15483-8, EUR 79,90
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