Die langjährige Grundlagenforschung am Repertorium Poenitentiariae Germanicum sowie die Arbeiten von Ludwig Schmugge, Arnold Esch und anderen haben in den letzten Jahrzehnten die Bedeutung des Archivs der Apostolischen Pönitentiarie für die Erschließung von Lebenswelten der Menschen in der Vormoderne durch die Auswertung dieser besonderen seriellen Quelle deutlich werden lassen. [1] Wie nunmehr bekannt ist, war dieses Dikasterium mit Verstößen gegen das kanonische Recht befasst. Es bearbeitete Schreiben von Klerikern und Laien, Männern und Frauen, die sich in verschiedenen kirchenrechtlich relevanten Problematiken mit einer Schilderung ihres Falles (unter Hinzuziehung eines Prokurators) an den Papst wandten. Erteilte die Pönitentiarie Absolution oder Dispens, so erhielten Antragsteller (Petenten) eine Littera, die zugleich in Register eingetragen wurde, welche heute konsultierbar sind. Darin sind die Fälle geordnet nach: Eheangelegenheiten ("de matrimonialibus"), verschiedenen Absolutionen ("de diversis formis et de declaratoriis"), Dispensen von so genannten Geburtsmakeln ("de defectu natalium"), Vergehen gegen Weihevorschriften ("de promotis et promovendis") sowie Anfragen um einen privaten Beichtvater oder einen Tragaltar ("de confessionalibus et altare portatili"). [2] Die meisten der Fälle sind in den Registern kurz schematisiert erfasst, in manchen, komplexeren, ist eine eingehendere narratio des Falles beigefügt.
Ähnlich wie in den großen vatikanischen Registerserien, stellte der Papst die Anlaufstelle für Menschen aus dem gesamten Orbis christianus dar. Das sich daraus ergebende Potenzial für Auswertungen ist bisher neben dem deutsch- und englischsprachigen Raum nur für wenige Regionen ausgeschöpft worden. [3] Möglichkeiten und Desiderate gibt es daher (neben einer zeitlichen Ausdehnung ins 16. Jahrhundert ff.) in systematischer und geographischer Hinsicht viele (und Schmugge weist sehr zu Recht darauf hin, dass diese Möglichkeiten auch für andere vatikanische Registerserien noch längst nicht ausgeschöpft sind). [4]
Schmugge selbst zeigt mit vorliegendem Band an dem lohnenden Beispiel Siena auf, wie man das Material für eine italienische Stadtrepublik nutzen kann: 270 Suppliken hat er für einen Zeitraum zusammengetragen und regestiert/teilediert, in dem zwei Sieneser Landsmänner Papst waren (Pius II., 1458-64; Pius III. 1503) und in dem die entsprechenden Klientelverbände (inklusive der Kurienbankiers) zwischen Rom und Siena zeitweise sehr stark waren. Nicht nur deshalb ist Siena lohnend: die Stadt verfügte auch über eine nicht unbedeutende Universität, über deren Frequentierung wir hier mehr erfahren (ein Sieneser Scholar trägt den schönen Namen "Johannes Nicolai de la Gramatica", Nr. 240) und die zugleich eine Durchgangsstation für den internationalen Pilgerverkehr war.
Für diese Zusammenhänge bietet der kundig eingeleitete Band viel Neues in menschlicher Nahperspektive - auch für den Piccolomini-Clan selbst, erfahren wir doch beispielsweise, dass der bekannte Humanist und päpstliche Zeremonienmeister Agostino Patrizi Piccolomini von illegitimer Geburt war und als Neugeborener in einen Konvent gegeben wurde (Nr. 179, vgl. 41f.). Nicht nur die "Piesken", auch andere Exponenten bedeutender Sieneser Familien (Petrucci, Spannocchi...), insbesondere auch Bankiers, supplizierten an die Pönitentiarie (die Sieneser Chigi machen Getreidegeschäfte mit Tunis, Nr. 128). Der gewählte Zugriff lässt darüber hinaus vor allem einen Einblick in das Innenleben und die Außenbeziehungen der Kommune Siena, ihrer Institutionen und ihrer Einwohner zu (wir treffen Sienesen auf der iberischen Halbinsel ebenso an wie in der Diözese Lüttich: Nr. 136, 149, 152, 204, 234), in Sienas Politik (u.a. die gut erforschte Verbannung: Nr. 125), die laikale und klerikale Bevölkerung (unter ihnen sind viele Auswärtige, neben Deutschen [5] auch Bologneser, Mailänder, Pisaner usw.). Spannungen und Konflikte, Familienverbindungen und Matrimonialpolitik werden ebenso erkennbar wie großflächige kirchliche Häuserverpachtungen. [6] Episoden wie Erbschaftsstreitigkeiten mit einem Barbier (Nr. 81) lenken den Blick auch auf kleinere Schicksale.
Schließlich ist das Material auch von kunsthistorischem Interesse, nicht nur, was die Lebensgeschichte eines Auftraggebers von Raffael, Filippo di Niccolò Segardi (61ff.), sondern auch die stifterische Aktivität der Sieneser Familie Bellanti angeht (Nr. 157). [7] Wie Schmugge betont, wären die Pönitentiariequellen nun weiter in der reichen Sieneser Überlieferung vor Ort nachzuverfolgen, Befunde aus lokalen Gerichten hinzuzuziehen. Das hier gebotene Material stellt indes schon jetzt einen großen Fundus dar, mit dessen Erschließung Ludwig Schmugge nicht nur die Sieneser Lokalgeschichte honorig bereichert. Wünschenswert ist, dass in Zukunft weitere Studien dieser Art zu anderen Orten und Regionen der Christianitas vorgelegt werden.
Anmerkungen:
[1] Repertorium Poenitentiariae Germanicum. Verzeichnis der in den Supplikenregistern der Pönitentiarie vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutschen Reiches, hg. durch das Deutsche Historische Institut in Rom, bearb. durch Ludwig Schmugge und Mitarbeiter, 11 Bde., Tübingen / Berlin 1998-2018, vgl. http://www.romana-repertoria.net/. Studien in Auswahl: Ludwig Schmugge: Ehen vor Gericht. Paare der Renaissance vor dem Papst, Berlin 2008; Arnold Esch: Die Lebenswelt des europäischen Spätmittelalters. Kleine Schicksale selbst erzählt in Schreiben an den Papst, München 2014.
[2] Die beste Einführung zur Pönitentiarie stammt von Kirsi Salonen / Ludwig Schmugge: A Sip from the 'Well of Grace'. Medieval Texts from the Apostolic Penitentiary, Washington D.C. 2009. Zur Überlieferung in partibus jetzt: Philipp Thomas Wollmann: Litterae der Apostolischen Pönitentiarie in partibus (1400-1500). Ein Beitrag zur kurialen Diplomatik, (= MGH. Studien und Texte; 68), Wiesbaden 2021.
[3] Paolo Ostinelli (a cura di): Le suppliche alla Sacra Penitenzieria Apostolica provenienti dalla diocesi di Como (1438-1484), Mailand 2003; Jennifer R. Mcdonald: The Papal Penitentiary and Ecclesiastical Careers: The Requests of Scottish Clergy in the Registers of the Sacra Apostolica Penitenzieria, 1449-1542, Ph.D.-Thesis, University of Aberdeen 2005; Sara Risberg / Kirsi Salonen (eds.): Auctoritate papae. The Church Province of Uppsala and the Apostolic Penitentieary 1410-1526, Stockholm 2008; Peter Clarke / Patrick Zutshi: Supplications from England and Wales in the Registers of the Apostolic Penitentiary, 1410-1503, 3 Bde., Woodbridge 2012-2015.
[4] Krzysztof Nykiel / Ugo Taraborrelli (a cura di) L'archivio della Penitenzieria Apostolica. Stato attuale e prospettive future: atti della giornata di studio Roma, Palazzo della Cancelleria, 22 novembre 2016, Città del Vaticano 2017.
[5] Siehe zuletzt auch Tobias Daniels: Un processo penale e la presenza dei tedeschi a Siena nella prima metà del Quattrocento, in: Studi Senesi 123,1 (2011) 7-35; Ders.: Oratoria accademica all'università di Siena alla metà del Quattrocento: Nuovi testimoni tedeschi, in: Studi Senesi 124,2 (2012) 197-225; Claudia Märtl: Neues zum Studium Thilos von Trotha, in: Bischof Thilo von Trotha (1466-1514). Merseburg und seine Nachbarbistümer im Kontext des ausgehenden Mittelalters, hgg. von Enno Bünz / Markus Cottin, Leipzig 2020, 145-154.
[6] Ganz ähnlich ist dies für Florenz zu beobachten. Vgl. Tobias Daniels: Florenz und die Florentiner 1484-1521. Zeugnisse aus dem Archiv der Pönitentiarie, in: Kurie und Kodikologie. Festschrift für Claudia Märtl zum 65. Geburtstag, hgg. von Jörg Schwarz / Georg Strack, Ostfildern 2020, 203-245, hier 212.
[7] Vgl. dazu: Die Kirchen von Siena, hgg. v. Peter Anselm Riedl / Max Seidel, Bd. 2.1.2., München 1992, 740f.
Ludwig Schmugge: Le suppliche dei senesi alla penitenzieria apostolica (1458-1513) (= Documenti di storia; 119), Siena: Edizioni Cantagalli 2021, 205 S., ISBN 978-88-6879-892-5, EUR 16,00
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