sehepunkte 22 (2022), Nr. 6

Christina Charlotte Randig (Hg.): En chemin

Das für die Reisekultur der Frühen Neuzeit charakteristischste Phänomen ist wohl die Reiseform führender Schichten, die wahlweise als Grand Tour oder Kavalierstour bezeichnet wird. Andere Reisen wie Pilgerreisen oder Kaufmannsreisen sind weniger epochengebunden. Es ist ein hervorstechendes Merkmal neuerer Reiseforschung, dass immer mehr die Reisen sozialer Eliten, die Adelsreisen, und speziell auch die Fürstenreisen in den Blick genommen wurden. Das bedeutet gleichzeitig, dass sich die Reiseforschung weniger als früher mit literarisch geformten und als Reisewerken veröffentlichten Büchern beschäftigt und stattdessen mehr das Reisen als Bestandteil adligen und höfischen Lebens beachtet hat. Dafür braucht es den Gang in die Archive: Solche privaten Reisedokumente wurden in aller Regel nicht veröffentlicht; adliges Reisen in der Frühen Neuzeit ist, wenn man die normative Ebene verlässt, die in den artes apodemicae und in den großen Reisehandbüchern angeschlagen ist, gewöhnlich nur aus Archivalien dokumentierbar: handschriftlichen Reisetagebüchern, Briefen, Rechnungen, Anweisungen für Hofmeister und dergleichen.

Zu dieser Art von Büchern gehört auch die vorliegende Edition, freilich mit einem gewichtigen Unterschied: Es geht hier um die Reise einer Frau. Frauenreisen finden, punktuell, schon seit längerer Zeit Beachtung, vor allem in ihrem Verhältnis zur epochentypischen Grand Tour oder Kavalierstour. Schon die zeitgenössische Polemik des 18. Jahrhunderts hat dabei den Konflikt der Verhaltensnormen herausgearbeitet zwischen der Frau, deren Wirkungskreis nach den herrschenden Vorstellungen von den Aufgaben der Geschlechter im Hause gesehen wurde, und der für Frauen zweifelhaften, gefährlichen und möglicherweise schädlichen Mobilität. Neuere Forschungen geben klarer zu erkennen, dass Frauenreisen zwar nicht (wie die Grand Tour) ein Kulturmuster bildeten und dass auch Bildungsreisen, wie sie für Bürgerliche erstrebenswert waren, als geschlechtsuntypisch angesehen wurden. Aber neben dem bewusst feministischen Bestreben, das einen Anspruch der Frau auf Bildung und Weltkenntnis erhob (Sophie von La Roche), gab es doch auch eine (sonst wenig beachtete) gewöhnliche Reisetätigkeit von Frauen (ohne kulturellen Niederschlag): Badereisen, Verwandtenbesuche, Brautreisen.

Hierher gehört auch diese Reise einer adligen Dame, die am 15. Mai 1758 mit Begleitung in Wien aufbrach, über Triest, Venedig, Mailand, Turin, Genf und Nancy nach Tübingen reiste, wo sie am 6. November 1758 ankam. Zum Verständnis dieser Reise muss man sich kurz in die Biographie der Autorin vertiefen.

Charlotte Sophie Gräfin Bentinck (1715-1800) war das einzige Kind des Reichsgrafen Anton II. von Aldenburg und seiner Gattin Prinzessin Wilhelmine Marie von Hessen-Homburg. Sie wurde calvinistisch erzogen und scheint eine gute Bildung im Sinne der Aufklärung bekommen zu haben, wurde jedoch bereits 17-jährig an den Niederländer Wilhelm Graf Bentinck in Den Haag verheiratet, nachdem ihr Vater in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten war, und hatte mit diesem zwei Söhne. Die Ehe scheint nicht sehr glücklich gewesen zu sein; Charlotte Sophie trennte sich von ihrem Mann und zog mit 23 Jahren zu ihrem Geliebten, dem Grafen Albrecht Wolfgang zu Schaumburg-Lippe, nach Bückeburg. Auch mit diesem hatte sie zwei Söhne, welche die Familiennamen von Bediensteten in ihrer Herrschaft Kniphausen erhielten. Die Trennung von ihrem Ehemann zog einen jahrzehntelangen Rechtsstreit um ihr Erbe nach sich, in dem Sophie Charlotte anfangs Beistand in Berlin, dann am Wiener Hof suchte. Die Suche nach einem neuen Wohnsitz und nach guten Bildungsmöglichkeiten für die sie begleitenden (unehelichen) Söhne mag sie zu ihrer Reise bewogen haben, zumal sie für den ältesten, der bereits in Leipzig studierte, aufgrund der Kriegsumstände eine andere Universität suchte. Die schließlich für ideal befundene Universität war Tübingen, während sie die Vorstellung, in der Schweiz leben zu wollen (Voltaire wollte sie gerne in seiner Nähe haben), nach ihrem Reisebesuch aufgab und nach Wien zurückging, wo sie allerdings unter ungeklärten Umständen 1761 von der ihr zuvor gewogenen Kaiserin Maria Theresia aufgefordert wurde, die Stadt zu verlassen, worauf sie sich zunächst nach Jever wandte und schließlich ihren dauerhaften Wohnsitz in Hamburg nahm.

Aufgrund dieser lebensgeschichtlichen Einbettung der Reise ist es auch zu verstehen, dass sie wesentliche Punkte jeder sorgsam geplanten Italienreise nie erreichte: Sie war nicht in Florenz, nicht in Rom und nicht in Neapel. Den Abstecher nach Lothringen hatte sie eingelegt, weil sie mehrere Bekannte in Adelsstiften in Nancy besuchen wollte und sich möglicherweise auch eine Förderung ihrer Anliegen durch Stanislas Leszczyński erhoffte, der zu jener Zeit in Lunéville residierte und sich für sie interessiert zu haben scheint.

Das mustergültig edierte Reisetagebuch der Sophie Charlotte Gräfin Bentinck wird hier in einer eigenartigen, aber leserfreundlichen Weise präsentiert. Die Transkriptionen der im Original französischen Texte findet man ab Seite 159. Deren Übersetzung und eingehende Kommentierung, die zudem noch durch kursive Zwischentexte der Herausgeberin in Abschnitten mit Überschriften präsentiert wird, beginnen auf der Seite 41. Davor steht eine Einleitung der Herausgeberin, aus der man alles Wissenswerte zur Biographie und zur Überlieferung der Quellen erfahren kann. Die Reisetagebuchaufzeichnungen selber ermöglichen es, die Reise in ihrem äußeren Verlauf nachzuvollziehen, die Schwierigkeiten des Reisens mit der Kutsche und die Unterbringung unterwegs, die wesentlichen Anlaufstationen und die besuchten Höfe kennenzulernen. Trotz des Bildungshorizontes der Verfasserin sind sie kulturgeschichtlich wenig aufschlussreich: weder in künstlerischer Hinsicht, noch in landschaftlicher. Akribisch listet die Reisende jeweils auf, wen sie getroffen hat und wem sie aufgewartet hat. Die Verzeichnung höfischer Kontakte beherrscht die Aufzeichnungen. Es ist insofern eine typische Reise einer adligen Dame.

Eine Besonderheit der Quellen liegt darin, dass wir nicht nur die unterwegs gemachten Reisenotizen der Gräfin haben (sie schrieb in Hefte, die zunächst festhalten, was sie an Praktischem nicht vergessen durfte, beispielsweise Geschenke und Besorgungen für bestimmte Personen in Wien; dann wandte sie die Hefte um und notierte von hinten ihre Bemerkungen zum Reiseverlauf), sondern auch die Reisebriefe, die sie für ihre Mutter schrieb und die von dieser abgeschrieben, also offenbar wichtig genommen und wertgeschätzt wurden. So kann man bei dieser Quellenpräsentation, in der die betreffenden Briefe jeweils auf die vorangehenden Reisenotizen folgen, aufschlussreiche Beobachtungen zur Funktion der literarischen Gattungen beim Schreiben über Reisen machen: zur Direktheit und Aktualität des Reisetagebuches und zur adressatenbezogenen Umformung und Ausgestaltung.

Rezension über:

Christina Charlotte Randig (Hg.): En chemin. Charlotte Sophie Gräfin Bentincks Reise im Jahr 1758. Reisetagebücher und Briefe an die Mutter. Transkription - Übersetzung - Erläuterung (= Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens; Bd. 144), Hannover: Wehrhahn Verlag 2021, 261 S., 10 Abb., ISBN 978-3-86525-897-7, EUR 25,00

Rezension von:
Michael Maurer
Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften, Friedrich-Schiller-Universität, Jena
Empfohlene Zitierweise:
Michael Maurer: Rezension von: Christina Charlotte Randig (Hg.): En chemin. Charlotte Sophie Gräfin Bentincks Reise im Jahr 1758. Reisetagebücher und Briefe an die Mutter. Transkription - Übersetzung - Erläuterung, Hannover: Wehrhahn Verlag 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 6 [15.06.2022], URL: https://www.sehepunkte.de/2022/06/36868.html


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