Die Reformationsdekade war von zahlreichen wissenschaftlichen, kulturellen, künstlerischen, religiös-kirchlichen und politischen Veranstaltungen geprägt, die an die Reformation im Allgemeinen und an das Wirken Martin Luthers im Besonderen erinnern wollten. Dass dieses Erinnern stets ausgesprochen zeitgebunden ist und selbst Gegenstand akademischer Betrachtungen sein kann, weiß man nicht erst seit den Feierlichkeiten zum 450jährigen Jubiläum des Thesenanschlags von Wittenberg. Insbesondere die unterschiedlichen Formen der diversen Zentenarfeiern waren wiederholt Gegenstand historischer Forschungen.
Die interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft 'Netzwerk Reformationsforschung in Thüringen' hat diesen Fokus auf einer anlässlich des Jubiläumsjahres 2017 in Gotha organisierten Konferenz in zweifacher Weise erweitert. Zum einen ermöglichte der interdisziplinäre Ansatz des Forschungsnetzwerks, vielfältige Formen der Memoria, etwa in den Bereichen Musik, Geschichtsschreibung, Münzprägung oder Archiv- und Bibliothekswesen, in den Blick zu nehmen. Zum anderen erlaubte es die Konzentration auf die Kernlande lutherischer Konfessionalisierung in Mitteldeutschland vom 16.-18. Jahrhundert den vor allem von Aleida Assmann entwickelten kulturwissenschaftlichen Deutungsansatz der 'Erinnerungsräume' anzuwenden und die verschiedenen Ausprägungen der Reformations-Memoria als Formen des Ringens um "die Vorherrschaft über das kollektive Gedächtnis" (15) zu interpretieren. [1]
Der nun vorliegende Tagungsband präsentiert einen Großteil der Vorträge dieser Tagung. Die ursprünglich auf fünf Sektionen verteilten Beiträge sind neu geordnet und in drei Abteilungen gruppiert worden, die sich den Akteuren reformatorischer Erinnerungskultur (I), den Gedächtnis-Speichern, -Orten und -Medien der Reformation (II) sowie den reformatorischen Erinnerungskulturen (III) widmen. Die einzelnen Beiträge sind bereits in dem kurz nach der Konferenz veröffentlichten Tagungsbericht inhaltlich zusammengefasst worden. [2] Sie alle beleuchten einzelne Aspekte der regionalen Reformations-Memoria nahe an den schriftlichen, bildlichen und architektonischen Quellen.
Besonders prägnant kann Siegrid Westphal in ihrem einleitenden Aufsatz zum Thema "Fürsten und Fürstinnen als Träger von Erinnerungskultur am Beispiel der Ernestiner" (33-52) herausarbeiten, dass die Grabinschriften und publizierten Leichenpredigten unter anderem dazu dienten, die Selbststilisierung der Ernestiner als Beschützer des wahren Luthertums im kollektiven Gedächtnis zu verankern und dieses Bild ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts sogar über ihre Stammlande hinauszutragen.
Auch die Interpretation von Christian Junckers 'Historia Reformationis in Nummis' aus dem Jahre 1706 durch Andreas Lindner (171-201) verweist auf die konfessions- und reichspolitischen Konnotationen reformatorischer Memoria. Mit seiner Darstellung von Leben und Werk Martin Luthers anhand von Gedenkmünzen, deren Abbildungen er insgesamt 34 Münz- und Medaillensammlungen entnahm, untermauerte Juncker im Vorfeld des 200jährigen Jubiläums der Reformation die besondere Bedeutung des ernestinischen Sachsens. Im Gegensatz zu dem durch Pietismus und Kryptocalvinismus, durch die Konversion August des Starken und die Auswirkungen des Nordischen Krieges vielfach verunsicherten albertinischen Sachsen erschien das ernestinische Fürstentum, in dessen Dienst Juncker als Hofhistoriograph stand, laut Andreas Lindner wie eine "Insel der Stabilität" (199).
Die hier angedeutete Verschränkung von Religion und Politik wird noch deutlicher, wenn man - wie es Wolfgang Flügel in seinem Beitrag anschaulich vorführt - das Konfliktpotenzial des Reformationsgedenkens am Beispiel der Säkularfeier 1717 in Kursachsen herausarbeitet (451-481). Gerade der konfessionelle Gegensatz zwischen katholischem Herrscher und evangelischer Bevölkerung drohte zu eskalieren und erzwang eine letztlich erfolgreiche Strategie der Balance (475) des Kurfürsten. Mit der Rolle der durchaus selbstbewusst auftretenden evangelischen Geistlichkeit, der Nutzung vielfältiger Formen des Erinnerns und den reichspolitischen Verflechtungen sind nur drei besonders markante Aspekte genannt, die Wolfgang Flügel in seinem ausgesprochen lesenswerten Aufsatz überzeugend miteinander in Beziehung setzt.
Neben dynastischen, gesellschaftlichen und politischen Aspekten schwangen bei der Erinnerung an die Reformation natürlich immer auch theologische Fragen mit, die meist eingebunden waren in aktuelle innerprotestantische Diskurse oder in das Ringen zwischen Katholizismus und Protestantismus. In einer ganzen Reihe der Beiträge dieses Tagungsbandes, die immer wieder Beispiele aus Thüringen präsentieren, wird das sehr schön verdeutlicht.
Wenn im abschließenden Aufsatz von Sascha Salatowsky allerdings nahezu ausschließlich dieser 'Kampf um die Reformation' und damit die theologische Komponente der Memoria thematisiert wird, entsteht ein etwas einseitiges Bild. In einer den Tagungsband abrundenden Bilanz hätte man sich auch eine etwas intensivere Auseinandersetzung mit dem in der Einleitung präsentierten kulturwissenschaftlichen Modell des Erinnerungsraumes gewünscht. So bleibt es dem Leser selbst überlassen, sich ein Bild davon zu machen, was das kollektive Gedächtnis Mitteldeutschlands in der Frühen Neuzeit prägte.
Anmerkungen:
[1] Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandel des kulturellen Gedächtnisses, München 5. Aufl. 2010.
[2] Tagungsbericht: Reformatio & Memoria. Teil 2: Neuere Forschungen zum Protestantismus in der Frühen Neuzeit - Erinnerungsräume der Reformation, In: H-Soz-Kult, 22.11.2017, www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-125995. (letzter Aufruf: 20.08.2022)
Christopher Spehr / Siegrid Westphal / Kathrin Paasch (Hgg.): Reformatio et memoria. Protestantische Erinnerungsräume und Erinnerungsstrategien in der Frühen Neuzeit (= Refo500 Academic Studies; Bd. 75), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020, 536 S., eine Tbl, 64 Farbabb., ISBN 978-3-525-51702-4, EUR 150,00
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