Der 2021 erschienene, wieder (wie die Bände 1, 4 und 8) von Andrea Hopp bearbeitete und eingeleitete Band 9 der "Neuen Friedrichsruher Ausgabe" (NFA) behandelt mit dem Zeitraum 1890 bis 1898 die Jahre von Bismarcks Entlassung bis zu seinem Tod. 1354 Dokumente wurden für diesen Band gesichtet, davon 466 für den Abdruck ausgewählt, etwa die Hälfte davon wird erstmals publiziert. Dieser Zeitraum war gleichzeitig derjenige, in dem der vormalige Reichskanzler der aktiven Politik entsagen musste, er aber dennoch eine öffentliche Person blieb, deren Auftreten und Äußerungen nie nur privater Natur sein konnten. Gleichzeitig markieren die letzten acht Lebensjahre Bismarcks die Phase seines Lebens, in der der "Bismarck-Kult" einen ersten Höhepunkt erreichte. Anders als die älteren Bände der Neuen Friedrichsruher Ausgabe besteht der Wert dieser Edition nicht darin, dass sie einen Beitrag zum besseren Verständnis von Bismarcks Politik leistet, waren dessen retrospektive Aussagen dazu doch erstens deutlich interessegeleitet und zweitens auch beeinflusst von der kontinuierlichen Abnahme seiner geistigen Kräfte. Dass der "politische Ruheständler" im Spiegel ausgewählter Quellen in den Blick genommen wird, ermöglicht vielmehr ein besseres Verständnis der Persönlichkeit des späten Bismarck, wie auch der Anfänge des Bismarck-Mythos, an dessen Entstehung der "Alte vom Sachsenwald" nicht unerheblich beteiligt war.
Von Anfang an ging es ihm darum, sein politisches Erbe, wie er es verstand, gegen Kritik abzusichern, die damalige Mitwelt seine Sicht der Dinge wissen zu lassen und damit der künftigen Nachwelt mitzuteilen. So informierte er beispielsweise Kaiser Franz Joseph, den bayerischen Prinzregenten Luitpold, Prinz Albrecht von Preußen, den württembergischen Ministerpräsidenten Hermann von Mittnacht und den Bundesrat in persönlichen Schreiben über seinem Rücktritt, aus denen deutlich wurde, dass er keineswegs freiwillig zurückgetreten war (Dok. Nr. 3, 4, 5, 7 und 14). Sein schwieriges Verhältnis zu Kaiser Wilhelm II. wird in vielen Dokumenten ebenfalls sehr deutlich. Die Edition beginnt bezeichnenderweise mit dem Abdruck des (mehrfach entschärften) Briefes, in dem Bismarck sehr vorsichtig, aber in der Sache dennoch deutlich, den ihm gleichsam als Trostpflaster verliehenen Titel eines Herzogs von Lauenburg zurückweist und darum bittet, seinen bisherigen Namen und Titel auch weiterhin führen zu dürfen (Dok. 1). Gerade bei seinen Konflikten mit dem jungen Kaiser und König, die 1892 im Zusammenhang mit der Hochzeit seines Sohnes Herbert in Wien ihren Höhepunkt erreichten, als Wilhelm II. Kaiser Franz Joseph wissen ließ, eine Audienz Bismarcks am Wiener Hof sei unerwünscht, zeigt sich, wie sehr sich der frühere Reichskanzler der Wertewelt des preußischen Adels verpflichtet fühlte: Er vermied trotz allem offene Brüskierungen Wilhelms II., wahrte stets die Form und freute sich in dem Maße, wie sich das beiderseitige Verhältnis allmählich entkrampfte, über Aufmerksamkeiten des Monarchen (Dok. Nr. 337, 353, 355, 372 und 408).
Hopp erklärt diese Haltung zutreffend damit, dass Bismarck einerseits einem allgemeinen adeligen Comment folgte, anderseits aber - und das ist das Entscheidende - dass er sich nach wie vor als Teil der Hofgesellschaft und damit einer kleinen, staatstragenden und, man wird hinzufügen dürfen, traditionsbewussten Elite sah. In der dankbaren Annahme der "Gnadenerweise" seines [!] Monarchen zeigte sich die unerschütterliche Loyalität Bismarcks zum Haus Preußen, die es ihm unmöglich machte, in einer grundsätzlichen Opposition zur Krone zu stehen. In diesem Sinne blieb Bismarck bis zuletzt ein unerschütterlicher preußischer "Konservativer" alten Stils. Deshalb war seinem nur halbherzig unternommenen Versuch, ein Reichstagsmandat zu erwerben und zu behaupten (Dok. Nr. 37, 79, 90, 95 und 213), letztlich auch kein dauerhafter Erfolg beschieden; er nahm das in einer Nachwahl in der Provinz Hannover 1891 errungene Mandat zwar an, nahm aber nie an einer Reichstagssitzung teil und besuchte auch seinen Wahlkreis nicht; 1893 verzichtete er auf eine erneute Kandidatur. Die Niederungen des modernen parlamentarischen Betriebs waren, auch im Gewande einer Honoratioren-Kandidatur, seine Sache nicht.
Umso engagierter nahm Bismarck, wie bereits erwähnt, den Kampf um die Deutungshoheit über sein Erbe auf. Er nutzte dafür nach wie vor das Mittel der Pressepolitik, konkret die renommierten "Hamburger Nachrichten", v.a. aber diente auch seine, trotz des Ruhestands, immer noch vor umfangreiche Korrespondenz diesem Ziel. Adressaten waren nach wie vor gekrönte Häupter, adelige Standesgenossen sowie aktive und ehemalige Politiker, denen Bismarck sich verbunden fühlte; immer wichtiger wurde allerdings der stetig anschwellende Zustrom von Anschreiben verschiedenster Personen, Männer wie Frauen, aus Adel und Bürgertum, die mit dem "Kanzler ohne Amt" (XII) schriftlich in Kontakt treten wollten. Es handelte sich hierbei, modern gesprochen, vor allem um Fanpost und diese beantwortete Bismarck eifrig, weil er darin "ein neues rhetorisch-strategisches Feld" (XII) erkannte, das ihn einerseits wohl über seinen realen Machtverlust hinwegtröstete, ihm andererseits aber völlig neue Möglichkeiten eröffnete, in eine breitere Öffentlichkeit hineinzuwirken. Erfolgreich war diese Strategie, die den entstehenden Bismarck-Kult nachhaltig beförderte, v.a. deshalb, weil Bismarck sich buchstäblich für keinen Korrespondenzpartner zu schade war und er bei den meisten zudem den Eindruck erweckte, dass er ihre Anliegen für berechtigt hielt. "Ideologieübergreifend eignete sich der alte Kanzler hervorragend zur Projektionsfolie für ein Konglomerat aus nationalen Erwartungen und bürgerlichen Tugenden, die er seinerseits verbal bediente." (XIII). Man ist fast geneigt, in Bismarck eine Art frühen "Influencer" zu erkennen, der sich eben der damaligen Methoden schriftlicher Kommunikation bediente, sich aber auch - wenngleich diese Ausdrucksformen des Bismarck-Kults für ihn eher lästig waren - der realen Begegnung in gebührenden Abstand nicht entzog. Man denke etwa an die Huldigungen zu seinem 80. Geburtstag im Jahr 1895.
Hopp benennt allerdings auch die Kehrseite dieser Strategie, nämlich seine Vereinnahmung ex post durch die unterschiedlichsten, miteinander kaum kompatiblen gesellschaftlichen bzw. politischen Gruppierungen: "Indem er alle, die ihm huldigten, gleichermaßen ermutigte, setzt er in gewisser Weise auch seinen Politikstil fort, den Dingen ihren Lauf zu lassen, wenn es seinem politischen Kalkül entsprach, und sich dabei Feindbildpropaganda und Parolen der Ausgrenzung im Bedarfsfall zunutze zu machen." (XXXIX). Doch warnt Hopp gleichzeitig davor, diesen Befund teleologisch zu deuten: "Weder war er damit eine singuläre Erscheinung in den regierenden Eliten seiner Zeit noch waren am Ende des 19. Jahrhunderts die Konsequenzen eindeutig vorgezeichnet." (XXXIX). Interessante, sehr persönliche Facetten von Bismarcks letzten Jahren beleuchten die Quellen, die seine Ehe bzw. den Tod seiner Ehefrau Johanna im November 1894, mit der er 47 Jahre verheiratet gewesen war, zum Gegenstand haben (Dok. Nr. 57, 108, 147, 289, 295 und 346). Er sah in dieser durchaus zeittypischen ehelichen Partnerschaft, anders als viele seiner Standesgenossen, zweifellos mehr als ein Zweckbündnis, das aus Gründen der Familienraison geschlossen wurde. Dass er in den Jahren nach Johannas Tod geistig wie körperlich immer mehr abbaute, spricht in diesem Zusammenhang Bände. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass Andrea Hopp mit diesem neuesten Band der Neuen Friedrichsruher Ausgabe, dem ein weite Verbreitung zu wünschen ist, wieder einen wertvollen Beitrag zur Bismarck-Forschung, aber auch darüber hinaus, geleistet hat.
Otto von Bismarck: Schriften 1890-1898. Bearbeitet von Andrea Hopp (= Otto von Bismarck. Gesammelte Werke. Neue Friedrichsruher Ausgabe. Abt. III: 1871-1898. Schriften; Bd. 9), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2021, LXXXIII + 406 S., ISBN 978-3-506-76043-2, EUR 69,00
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