Zu besprechen ist die preisgekrönte Konstanzer Dissertation Münchs, in der er einen mikrohistorischen Blick auf ein schmales Segment des informellen Handels, den Handel mit Altkleidern im London des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, wirft. Dabei sticht zunächst der Versuch ins Auge, durch Fragestellung und Methodik einen möglichst unvoreingenommenen Blick auf diesen Handel zu erhalten. In der Einleitung diskutiert er eingehend die knappe Forschungslage mitsamt den potentiellen, das Ergebnis präfigurierenden Fragen und Methoden. So wurden häufig in Studien z.B. die Lumpensammler per se als jüdisch identifiziert, weshalb eine Geschichte der "jüdischen Lumpensammler" geschrieben wurde. Solchen bereits im Studiendesign enthaltenen "Biases" will er unter anderem mit erwähntem mikrohistorischem Ansatz entgehen.
Angesichts einer eher dürftigen Quellenlage versucht Münch, seine Studie durch eine breit gefächerte Quellenbasis zu unterlegen. Dabei reichen die Quellengattungen von Zensusdaten über Berichte zeitgenössischer Sozialgeografen wie z.B. Henry Mayhew bis hin zu Gerichtsakten und lokalpolitischen Archivalien. Mit dieser Methodik und diesen Quellen im Gepäck macht Münch sich auf, die Menschen rings um die Cutler Street und ihre vielfältigen wirtschaftlichen, kulturellen und religiösen Praktiken und Interaktionen zu erkunden.
Im ersten Teil seiner Arbeit geht er dezidiert den Protagonisten des Handels mit Altkleidern nach, allesamt eher aus migrantischen Kontexten stammende Händler, die oftmals untereinander familiär verbunden waren. Zwei Gruppen dominieren dabei die Szene: Juden und Iren, wobei Münch immer wieder zeigen kann, dass zwar ethnische und religiöse Zugehörigkeit wichtig, aber nicht zwingend ausschlaggebend für die jeweilige Positionierung gegenüber anderen Personen war. Er kann z.B. luzide zeigen, dass auch auf einem auf den ersten Blick unreglementierten Markt wie dem Altkleidermarkt die Regeln einer informellen Marktordnung greifen, wie sie für "Basarökonomien" typisch sind, die im Einzelfall auch die ethnischen und religiösen Unterschiede zwischen den Akteuren in den Hintergrund treten lassen. Dazu gehören etwa bestimme Formen der Streitschlichtung, z.B. Selbstjustiz, aber auch das Aufbauen von Vertrauensbeziehungen, durch stete Interaktion und dem jeweiligen Zusprechen von kulturellem Kapital, z.B. der Ehre des Handelspartners.
Im zweiten Teil widmet sich Münch seinen Protagonisten in Konfliktsituationen und speziell der integrativen Kraft des Konfliktes. So kann Münch überzeugend zeigen, dass im Handeln der jeweiligen Protagonisten in Streitsituationen, wie er sie z.B. in juristischen Prozessen zwischen Straßenhändlern und Ladenbesitzern analysiert, die Entstehung eines spezifischen Klassenbewusstseins auf beiden Seiten zu beobachten ist. Dieses Klassenbewusstsein wurde in besonderen Konstellationen weiter gefördert. Münch präsentiert hierzu einen umstrittenen Wahlvorgang, bei dem die Wahlberechtigten zunächst denkbar knapp einen Kandidaten zum Alderman wählten, den die anderen Aldermen als ungeeignet einstuften. Durch die stete Weigerung, ihn in ihren Kreis aufzunehmen, verfestigte sich bei der Wählerschaft die Opposition zu ersteren und sie wählten ihren Kandidaten penetrant aufs Neue. Da die Argumente gegen ihren Kandidaten sich auch auf seine sozioökonomische Zugehörigkeit bezogen, sahen auch sie sich in ihrer Identität angegriffen und schlossen sich umso enger um ihn. Im letzten beschriebenen Konflikt sammelten sich die Einwohner des Bezirkes ethnien-, religions- und klassenübergreifend gegen einen gemeinsamen Gegner; auch wenn dieser Konflikt letztlich nicht erfolgreich für sie ausging, so legte er doch den Grundstein für ein multiethnisches Stadtviertel.
Abschließend diskutiert Münch seine Ergebnisse im Kontext diverser historiografischer Strömungen; er hofft dabei auch auf eine Einbettung seiner Befunde in eine vergleichende Analyse von verschiedenen historischen Altkleider- oder allgemein Straßenmärkten. Zudem erörtert er die Vor- und ggf. auch Nachteile eines mikrohistorischen Ansatzes; dabei diskutiert er auch die Spezifika verschiedener mikrohistorischer Schulen und plädiert für die Orientierung an der italienischen "Mikrostoria". Münch hofft dabei, "gezeigt zu haben, dass eine theorieaffine Mikrogeschichte geeignet ist, die Eigendynamik kulturell heterogener Sozialräume zu ergründen" (355). Dies ist durchaus gelungen. Abschließend ist besonders positiv hervorzuheben, dass die Arbeit bei aller Theorieaffinität sehr gut und flüssig zu lesen ist.
Ole Münch: Cutler Street Market. Interkultureller Austausch im Londoner East End 1780-1850 (= Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts; Bd. XXXIII), Göttingen: Wallstein 2022, 382 S., 13 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-5166-0, EUR 38,00
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