Miriam Hähnle hat mit Ihrer Dissertation einen substanziellen Beitrag zur Wissensgeschichte des 18. Jahrhunderts vorgelegt, der das Reisen explizit als zeitliche Praxis fasst und damit in einen produktiven Dialog mit Reinhart Kosellecks These zum Wandel zeitlicher Wahrnehmungen in der sogenannten Sattelzeit tritt. Wann war Arabien? vollzieht die von Göttingen aus vorbereitete und vom dänischen Königshaus finanzierte Arabien-Expedition Carsten Niebuhrs und seiner sechs Mitreisenden in den Jahren 1761-67 nach. Dabei stehen nicht so sehr die einzelnen Akteure, sondern die Zusammenschau ihrer Eindrücke sowie die epistemischen Verflechtungen und intertextuellen Verweise der Narrative und Praktiken, derer sie sich bei der Annäherung an die von ihnen bereisten Regionen bedienten, im Zentrum der Analyse. Das umfangreiche Korpus der Notizen, Briefwechsel und Tagebücher, die im Zuge der Expedition entstanden sind und sich heute auf Archivbestände in Kopenhagen, Göttingen und Kiel verteilen, dient als primärer Quellenzugang.
Hähnle arbeitet das diskursive Umfeld der Expedition vor dem Hintergrund gesamteuropäisch wirksamer Trends des antiquarischen Sammelns und der Akkumulation von Wissen sowie des deutschsprachigen humanistisch-theologischen Umfelds seiner Initiatoren heraus. Unter diesen sticht der in Göttingen wirkende protestantische Theologe Johann David Michaelis hervor, der sich von den empirischen Beobachtungen der Reisenden neue Erkenntnisse zum Verständnis alttestamentarischer Lebenswelten versprach und die Reise durch seine genauen Vorgaben mitzugestalten und zu normieren suchte.
Der Fokus in Hähnles Analyse liegt auf der historischen Zeiterfahrung und dem Schaffen von historischen Sinnzusammenhängen durch die Expeditionsteilnehmer. Zeit versteht die Autorin dabei als sozial und kulturell bedingtes Konstrukt, das nicht systematisch und linear fortschreitet, sondern sich multidirektional entfalten kann, so dass sich Vorstellungen aus unterschiedlichen Kontexten, Epochen und epistemischen Zusammenhängen unerwartet annähern oder überlappen. Auch mit Blick auf die Arabien-Expedition stellt sie fest, dass für die Reisenden unterschiedliche Vorstellungen von Zeitlichkeit dynamisch nebeneinander existierten.
Das Nachdenken über Zeiterfahrung wird für Hähnle insbesondere im Umgang mit Objekten greifbar. Um diesem Zusammenhang weiter nachzugehen, schlägt Hähnle eine kulturgeschichtliche Methodik der "doppelten Archäologie" vor (41): Konkrete soziokulturelle Praktiken im Umgang mit Objekten, die Reisenden unterwegs begegneten, werden auf ihre Verknüpfungen und Wechselwirkungen mit übergreifenden Narrativen, epistemischen Praktiken und Institutionen befragt. Eine Schlüsselrolle spielt das Konzept des Relikts als ein in der Gegenwart greifbares Objekt, welches für die Betrachter auf vergangene Zeiten verweist und diese sinnlich erfahrbar macht. Dabei können Ruinen, aber auch Pflanzen, Tiere oder Menschen als Relikte fungieren.
Am Beispiel zweier Objektgruppen - paganen Relikten der Antike und Relikten aus biblischer Zeit - vollzieht Hähnle vergleichend zeitliche Wahrnehmungsmuster und Praktiken nach, durch die die jeweiligen Objekte erschlossen und dabei in intertextuelle Netzwerke und gelehrte Referenzrahmen eingebettet wurden. Typisch im Umgang mit Relikten aus pharaonischer Zeit und griechisch-römischer Antike war ein methodischer Zugang des systematisch-rationalen Vermessens und Verzeichnens, der mit Reflektionen über den ideellen und materiellen Wert der Objekte, aber auch subjektiven, körperlichen und sensorischen Annäherungen, wie sie zum Beispiel beim mühsamen Erklettern antiker Bauwerke zum Tragen kamen, spannungsvoll zusammenwirkte. Die Autorin kann nachweisen, dass im Vergleich dazu im Umgang mit biblischen Relikten wichtige Unterschiede bestanden: Galten die antiken Altertümer der Region als geradezu überforscht, waren bei der Erschließung biblischer Bezüge ethnographisches Geschick und eigene Grundlagenarbeit erforderlich. Zeitlich verwiesen die paganen Relikte auf etablierte Verfallsnarrative und zyklische Erzählungen von Aufstieg und Niedergang vergangener Zivilisationen. Da eine Kontinuität angenommen wurde zwischen alttestamentarischer und zeitgenössisch-nomadischer Lebenswelt, konnten die biblischen Relikte hingegen als zeitlos und statisch gelesen werden. Das bibelwissenschaftliche Interesse im Rahmen von Orientexpeditionen der Aufklärungszeit ist bisher noch wenig erforscht. Vorannahmen über eine säkulare und verwissenschaftlichende Haltung der Reisenden in dieser Zeit haben diese Zusammenhänge bisher in den Hintergrund treten lassen. Die Autorin lotet die Ambivalenzen der Wissenschaftskultur des 18. Jahrhunderts in auf der Basis ihrer Empirie differenzierter aus und kommt zu dem Schluss, dass im Zuge der Arabien-Expedition unterschiedliche Erkenntnisinteressen und damit jeweils einhergehende "Episteme des Zeitlichen" (249) in Wechselbeziehung traten und Verflechtungen eingingen, die Prozesse der Historisierung und philologischen Erschließung des Bibeltexts im Kontext der Aufklärungstheologie insgesamt widerspiegeln. Neben der von katholischen Zuschreibungen seit Jahrhunderten intensiv geprägten Stadt Jerusalem, zu denen sich die Beschreibung durch Niebuhr und seine Mitreisenden als explizite Gegenentwürfe verstanden, waren Lebenswelten arabischer Nomaden, die Erforschung der arabischen Sprache, sowie der naturräumlichen Bedingungen und Spuren alttestamentarischer Topographien in den Wüstenregionen in diesem Zusammenhang von Interesse.
Hähnles Fokus auf zeitliche Wahrnehmungen nimmt Bezug auf die These eines grundlegenden, gesamteuropäischen epistemischen Wandels im Verlauf des 18. Jahrhunderts, der mit einer Veränderung zeitlicher Wahrnehmungen einherging. Anders als das Selbstbild der Aufklärer vermittelt, kann die Autorin am Beispiel der Arabien-Expedition für das 18. Jahrhundert jedoch keinen kompletten Bruch mit früheren Vorstellungen und Wissensbeständen feststellen. Auch der bisher vorherrschende Blick auf Reisenden im 18. Jahrhundert allgemein und die Arabien-Expedition um Carsten Niebuhr im Besonderen als empirisch-rational und verwissenschaftlicht ist zu nuancieren. Hähnle arbeitet die Ambivalenzen, Widersprüche und Spannungen zwischen parallel koexistierenden, bereits bestehenden und sich neu herausbildenden Zeitwahrnehmungen überzeugend heraus.
Lokale Akteure geraten dabei vergleichsweise selten in den Blick, und auch die Haltung der osmanischen Behörden zu den Aktivitäten der Reisenden oder den Objektgruppen selbst wird nur kursorisch angesprochen. Hier ließen sich weiterführende Fragen nach Übersetzungsprozessen und alternativen Referenzrahmen für die Erschließung der Objekte aus einer transkulturellen Perspektive anschließen. Wie gewinnbringend ein solcher Perspektivwechsel für eine verflochtene Wissensgeschichte sein kann, hat zuletzt Zeynep Çelik in Europe Knows Nothing about the Orient (2021) [1] für das 19. Jahrhundert anschaulich gezeigt.
Insgesamt hat Hähnle einen mit zahlreichen empirischen Details unterfütterten, sehr lesenswerten Beitrag zur Diskussion um historische Zeiterfahrungen vorgelegt, der für theoretisch Interessierte zugänglich bleibt und gleichzeitig einem Fachpublikum tiefgehende Einblicke in die Geschichte des Reisens und des deutschsprachigen Orientalismus sowie die Wissensgeschichte im 18. Jahrhunderts ermöglicht. Es würde sich unbedingt lohnen, das hier begonnene Gespräch auch unter stärkerer Einbeziehung osmanistischer und islamwissenschaftlicher Forschungen zu Fragen der Zeiterfahrung fortzusetzen.
Anmerkung:
[1] Zeynep Çelik: Europe Knows Nothing about the Orient. A Critical Discourse (1872-1932), Istanbul 2021.
Mirjam Hähnle: Wann war Arabien? Historische Zeiterfahrungen im Kontext einer Forschungsreise (1761-1767) (= Peripherien; Bd. 7), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2021, 462 S., 21 Abb., ISBN 978-3-412-52400-5, EUR 75,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.