In jeder Kultur der Welt und in allen Epochen sind Ornamente anzutreffen. Vermeintlich totgesagt, sind sie längst in Kunst, Design und Architektur zurückgekehrt. Die hier zu besprechende Publikation von Thomas Weil thematisiert verwandtschaftliche Beziehungen zwischen diesen ornamentalen Formen und nähert sich der Frage an, wie visuelle Kulturen miteinander kommunizieren können.
Weils 2021 erschienene New Grammar of Ornament bezieht sich mit dem Titel explizit auf Owen Jones' berühmte Studie The Grammar of Ornament von 1856, in dem auf über hundert Tafeln Ornamentstile aus allen Kontinenten in kolorierten, sorgfältig ausgeführten Stichen präsentiert werden. Das Buch ist wenige Jahre nach der ersten Weltausstellung im Jahr 1851 im Londoner Kristallpalast erschienen. Es ist ein Kind der Industrialisierung und der Entdeckung des Kunstgewerbes aus aller Welt. Das Ornament erscheint bei Jones auf das formale Motiv reduziert, ohne Materialität oder Werkkontext. Diese Darstellungsstrategie hatte den Zweck, eine Vergleichbarkeit der untersuchten ornamentalen Objekte auf formaler Ebene zu ermöglichen. Laut den allgemeinen künstlerischen Prinzipien, die Jones dem Tafelteil voranstellt, haben die dekorativen Künste ihren Ausgangspunkt in der Architektur und sollten deren unzertrennliche Begleiterinnen bleiben. Die Architektur wiederum definierte er als den materiellen Ausdruck der Bedürfnisse eines Zeitalters. In der Rezeption des Buches ging Jones eigentlicher Ansatz einer geschichtlich pluralistischen Lesart aber unter. Es diente vielmehr als ein Formenkatalog für den verschwenderischen Einsatz von Ornamenten in der historistischen, aus den verschiedensten Stilen versatzstückartig schöpfenden Architektur der Gründerzeit, gegen den sich der Funktionalismus der Moderne richtete.
Wenn Thomas Weil (geboren 1944), Architekt, Künstler und Kurator sein Buch in der Tradition von Jones' Ornamentatlas verstanden wissen möchte, stellt sich vor allem die Frage, welchen Beitrag er damit heute leisten möchte. Erklärtes Ziel des Buches ist es, ein Werkzeug zur globalen Verständigung zu bieten. Weil war u.a. zwischen 1970 und 1972 als Architekt am Bau des Olympischen Dorfes in München beteiligt. Die geometrische Ornamentik in Kunst, Architektur und Design bildete seither einen Arbeitsschwerpunkt Weils, den er auch in Ausstellungs- und Lehrprojekten u.a. an der Design Akademie in der bayerischen Hauptstadt vertiefte. Die nun vorgelegte, auf Englisch publizierte New Grammar of Ornament gliedert sich in ein Vorwort des Autors (4f.), zwei kurze, einleitende Essays von Gastbeiträgern, von dem Archäologen und Paläontologen Manuel Will von der Universität Tübingen (6ff.) und von dem Kunsttheoretiker und Kunstkritiker Heinz Schütz (10ff.), und einen aus eigenhändigen Illustrationen bestehenden Hauptteil (18ff.). Das Buch endet mit einem knappen autobiografischen Epilog des Autors (330).
Um etwas als neu bezeichnen zu können, ist es notwendig, es vom Alten abzugrenzen. Worin aber besteht das "Neue" an Weils Grammatik des Ornaments? Die Innovation Weils ist zunächst vor allem in der visuell vermittelten These einer anthropologischen Konstante, einer universalen Grammatik zu sehen, die mit Owen Jones auf eines der wichtigsten Referenzwerke der Epoche des Historismus Bezug nimmt. Auch Weil bezieht sich auf verschiedene globale Sphären des Ornaments, etwa der islamischen Kultur oder der Kunst des Fernen Ostens, die miteinander in Kontext gesetzt werden. Auf dem Buchcover sind bereits vier Ornamente abgebildet, die laut Weil von prähistorischen und frühzeitlichen Artefakten abgeleitet sind. Zu sehen sind abstrakte Linien, Punkte und Flächen, die rapportieren, spiegeln, sich wiederholen: Horizontale, übereinander gestaffelte Linien, unregelmäßig auf der Bildfläche verteilte Punkte, aufeinander folgende rautenförmige Muster, geometrische Formen bzw. Quadrate. Auf diesen Basis-Elementen beruhen die Illustrationen im Hauptteil des Buches überwiegend. Sie sind der Versuch, weltweit sichtbare ornamentale Objekte visuell zu klassifizieren.
Die nach den Gesichtspunkten "minimalistisch", "geometrisch" und "floral" geordneten Zeichnungen Weils nehmen dabei häufig die ganze Seite ein. Die Muster bestehen etwa aus ovalen, punktförmigen oder geraden Formelementen, die in unterschiedlichen Größen und Ausrichtungen auf der Blattfläche angeordnet erscheinen (vgl. 57, 44f., 50f.). Teils werden diese Darstellungen um Referenzen vorhandener Muster an Objekten und Artefakten in der Wirklichkeit ergänzt, beispielsweise zu einem Detail des Daches des Münchner Olympiastadions. Das Dach besteht aus quadratischen Acrylglasplatten, die mit metallenen Nieten versehen sind, die wiederum ein regelmäßiges Punktmuster bilden (vgl. 89). Das punktförmige Raster der einen Illustration ähnelt dem Punktmuster der Glasplatten, während eine andere Illustration mit rechtwinklig zusammengesetzten Linien das Muster der versetzten Dachplatten spiegelt. Die Kategorie des Floralen wiederum findet an einer Stelle Anklang in dem markanten floralen Muster der Flowers-Serie von Andy Warhol aus den 1960er-Jahren (vgl. 259).
Geht man der Frage nach, welche Bedeutung dem Buch in den aktuellen Forschungsdebatten um das Ornament zukommt, lässt sich folgendes Ergebnis festhalten. Der umfangreiche und maßgebliche Bildteil macht Weils Publikation eher zu einem Künstlerbuch als einer kunstwissenschaftlichen Studie. Und sicher wendet es sich mehr an eine Zielgruppe aus dem Bereich der angewandten Künste. Von besonderem Interesse für eine akademische Leserschaft, die mit der Titelwahl unwillkürlich angesprochen wird, ist dabei vor allem der explizite Bezug auf Owen Jones' Grammatik der Ornamente. In den aktuellen akademischen Debatten um das Ornament überwiegen die Stimmen, die das Paradigma interkultureller Vernetzungen untersuchen. Mit dieser Ausrichtung sind zugleich zahlreiche Rekurse auf die Ornamenttheorien der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbunden. Owen Jones' Studie Grammar of Ornament von 1856 kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Die Studie von Weil knüpft gewissermaßen an die Versuche von avantgardistischen Künstlerinnen und Künstlern wie Kandinsky, Matisse oder Klee und von Autoren wie Wilhelm Worringer vermittelten Ideen an, eine universale Sprache zu finden.
Der komparative, epochenübergreifende und globale Zugriff ist interessant. Allerdings birgt er aus kunsthistorischer Perspektive auch Probleme. Betrachtet man das Ornament als Kommunikationsmittel in einem Netzwerk visueller Kulturen, müsste den Gruppenbildungen, etwa auf Ebene von Kunstlandschaften, Rechnung getragen werden. Tendenziell behindert genau diese Detaillierung aber die methodische Annahme einer anthropologischen Konstante. Der methodische Zugriff qua einer anthropologischen Konstante führt auf formaler Ebene also zu einer verflachten Argumentation, da vom größten gemeinsamen Nenner ausgegangen werden muss. Unterschiede, Zusammenhänge und Querverbindungen zwischen den Kulturen benötigen aber ein tiefgehendes Geschichtsbewusstsein.
Man täte Weils Großprojekt aber Unrecht, ihm lediglich auf theoretischer Ebene zu begegnen. Owen Jones definierte die Architektur im Jahr 1856 als den materiellen Ausdruck der Bedürfnisse, der Fähigkeiten und der Empfindungen eines Zeitalters, dessen Schöpfung sie sei. In dieser Tradition Impulse für heutige Formfragen in Design und Architektur und Hinweise auf universale Formgesetze gegeben zu haben, ist ein wichtiger Forschungsbeitrag des Buches von Thomas Weil.
Thomas Weil: New Grammar of Ornament, Baden: Lars Müller Publishers GmbH 2021, 340 S., ISBN 978-3037786536, EUR 35,00
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