Dass die Analyse der deutschen Gesundheitspolitik einen exzellenten Rahmen bietet, um staatliche Herrschaft und politische Ordnungen im 20. Jahrhundert zu beschreiben, ist unstrittig. Von der historischen Forschung gut ausgeleuchtet sind die gesundheitspolitischen Räume vor 1933: Über die Gesundheitspolitik in der Weimarer Republik - vor allem hinsichtlich des eugenischen Diskurses und der Sozialhygiene - liegen wichtige Arbeiten vor, ebenso mit Blick auf das Kaiserreich. Welche Kardinalfunktion die Gesundheitspolitik für die beiden deutschen Weltanschauungsdiktaturen des 20. Jahrhunderts gespielt hat, ist für das "Dritte Reich" auf umfassendste Weise dargelegt worden; mit Blick auf das SED-Regime wissen wir zwar viel, aber längst nicht alles. Zur bundesdeutschen Gesundheitspolitik wiederum hat sich die Forschung in den zurückliegenden Jahren erheblich ausdifferenziert und ist immer mehr dazu übergegangen, die Bedeutung von Gesundheitspolitik als einem essenziellen Bestandteil von Demokratiegeschichte zu begreifen.
Christian Sammer schließt mit seiner nun in Buchform vorliegenden Dissertation in doppelter Hinsicht eine Forschungslücke. Denn er widmet sich der Gesundheitsaufklärung als einem Teil von Gesundheitspolitik in Demokratie und Diktatur. Seine deutsch-deutsch vergleichend angelegte Untersuchung rückt das Deutsche Hygiene-Museum Dresden und das Gesundheitsmuseum Köln bzw. die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in den Mittelpunkt. Der Untersuchungszeitraum ist auf die Jahre zwischen 1945 und 1967 begrenzt.
Sammer versteht seine Studie als einen Beitrag zur Historisierung der Gesundheitsaufklärung und einer (Zeit-)Geschichte der Prävention. Seine Arbeit ist eingebettet in die Forschung zur deutsch-deutschen Mediengeschichte, rückgebunden an die Konzepte von Westernisierung, Amerikanisierung, Sowjetisierung und Europäisierung und zugleich eine Analyse zur Bedeutung der "Stunde Null". Ziel der Studie ist es, Transferprozesse der deutsch-deutschen Gesundheitsaufklärung, aber auch die jeweils prägende Kraft politischer Ordnungsvorstellungen für Praktiken der Gesundheitsaufklärung zu untersuchen - ohne "in eine Erzählung diktatorischer Unterdrückung und Gewalt münden zu müssen" (18 f.).
Der von Sammer gewählte methodische Zugang des Vergleichs, der die Untersuchung von Transfer und Verflechtung einschließt, ist keineswegs neu in Bezug auf die Gesundheitsaufklärung, wohl aber hinsichtlich des deutsch-deutschen Kontextes. Sammer gliedert seine Arbeit in fünf ungleich lange Kapitel. Beginnend mit der Nachkriegszeit und einer Skizzierung der Ausgangsbedingungen in West wie Ost, befassen sich die beiden folgende Abschnitte mit den 1950er-Jahren. Nach Darstellung des Übergangs in das nächste Jahrzehnt wird in Kapitel 5 die zwischen 1962 und 1967 in beiden deutschen Staaten zeitgleich stattfindende Entmusealisierung der Gesundheitsaufklärung in Form der Gesundheitserziehung untersucht. Besonders hilfreich sind die prägnanten Zusammenfassungen der wichtigsten Befunde am Ende eines jeden Kapitels. Gleiches gilt für zwei Serviceleistungen Sammers: das umfangreiche Register und die kurzbiografischen Angaben zu mehr als 70 Personen.
Bei vielen Ergebnissen würde man gern noch weitergehende Analysen lesen, etwa hinsichtlich des interessanten Befundes, dass in Bonn und Ost-Berlin zur gleichen Zeit praktisch identische Schlussfolgerungen hinsichtlich einer Neuausrichtung der Gesundheitsaufklärung gezogen wurden - trotz diametral verschiedener politischer und gesellschaftlicher Ordnungen. Weiter bereichert hätte es Sammers imposante Studie überdies, wenn Ergebnisse hinsichtlich der benannten systematischen Untersuchungskategorien noch prononcierter herausgestellt und die konkreten Transferprozesse und deutsch-deutschen Bezugnahmen noch stärker gewichtet worden wären. Als Monitum angeführt werden könnte zudem, dass eine prägnante, systematische Kontextualisierung vor allem hinsichtlich der Weimarer Republik fehlt. Denn neu waren die nach 1945 in West wie Ost implementierten gesundheitsaufklärerischen Konzepte nicht.
Ungeachtet dessen hat Christian Sammer mit seiner Arbeit ein grundlegendes Werk zur deutsch-deutschen Gesundheitspolitik und -aufklärung vorgelegt. Einer der Vorzüge seiner Studie liegt nicht zuletzt darin, dass Sammer eine auf breiter Quellenbasis fußende und kenntnisreiche Darstellung zur DDR präsentiert und ihm der darstellerisch schwierige Akt eines Vergleiches gut gelingt. Seine Ergebnisse bereichern den wissenschaftlichen Diskurs auf vielfältige Weise und motivieren zu weiterer Forschung. Als ein gewichtiger Debattenbeitrag ist Sammers Buch vor allem auch anschlussfähig an die von Malte Thießen vorgeschlagene "Zeitgeschichte der Gesundheit". Auch wenn er mit seiner komplexen Sprache von seinen Leserinnen und Lesern sehr viel Konzentration einfordert, leistet die Studie einen profunden Beitrag zur deutsch-deutschen Geschichte der Gesundheitsaufklärung zwischen 1945 und dem Ende der 1960er-Jahre.
Christian Sammer: Gesunde Menschen machen. Die deutsch-deutsche Geschichte der Gesundheitsaufklärung, 1945-1967 (= Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit; Bd. 57), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2020, XI + 546 S., ISBN 978-3-1106-6010-4, EUR 54,95
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