sehepunkte 23 (2023), Nr. 2

Jose Cáceres Mardones: Bestialische Praktiken

Der hier vorzustellende Band ist der erste einer neuen Reihe "Tiere in der Geschichte", die Christian Jaser, Mieke Roscher und Nadir Weber, unterstützt von einem wissenschaftlichen Beirat, im Böhlau-Verlag herausgeben. Ziel dieser Reihe ist es, so das Editorial, die methodischen Entwicklungen im neuen Forschungsfeld der Human-Animal-Studies zu bereichern und zugleich einen Beitrag zu aktuellen Debatten der Sozial-, Kultur-, Politik- und Umweltgeschichte zu leisten.

In diesem ersten Band untersucht Jose Cáceres Mardones die Praktiken des Geschlechtsverkehrs zwischen Menschen und Tieren im frühneuzeitlichen Zürich. Der Ansatz ist ein praxeologischer, der Interdependenzen der Praxis mit zeitgenössischen Diskursen einbeziehen möchte und - mit Verweis auf Bruno Latour - von der Wirkmacht (agency) der menschlichen wie nicht-menschlichen Akteure ausgeht.

Die Quellenbasis bieten Gerichtsakten und Amtsbücher sowie daraus gezogene und in einem Dossier bereits im 18. Jahrhundert zusammengefasste Einzelstücke im Staatsarchiv Zürich. Der Autor kann für das 17. Jahrhundert 69 Fälle ermitteln, die sich annähernd gleichmäßig über den ganzen Zeitraum verteilen. Nur selten kam es zu Tätergemeinschaften; einen Sonderfall stellt der Prozess gegen neun Kinder und Jugendliche dar.

"Bestialität" ist den letzten Jahren ein Gegenstand der Human-Animal-Studies geworden; die einschlägigen Veröffentlichungen kennt und zitiert der Autor. Seine eigene Untersuchung teilt er in fünf Kapitel - Tiere, Justiz und Gesellschaft; Bestialische Praxis; Theologie, Religion, Sünde; Geschlecht, Körper, Sexualität; Der Bruch der sozialen Ordnung - und ein Fazit.

Der Geschlechtsverkehr mit Tieren war nach Bibel (Lev. 20, 15) und Carolina, die auch in Zürich als Rechtsquelle galt, mit dem Tod zu ahnden. Die früher geistliche Gerichtsbarkeit in Sittlichkeitssachen hatte der Rat in der Reformationszeit an sich gezogen. Dennoch war das Verfahren nicht komplett weltlich; die zuständigen Geistlichen besuchten die Angeklagten vielmehr in der Haft und gaben ein Gutachten ab. Von 81 Angeklagten wurden 43 hingerichtet, 21 freigelassen, zwei verbannt. Acht entzogen sich dem Verfahren durch Flucht, das Schicksal von sieben weiteren ist unbekannt. Weniger als zehn Fälle belegen das Töten der Tiere. Die Nutzung der Tiere wird in den Verfahren nicht oder nur am Rande explizit gemacht. Mardones zieht daraus den Schluss, dieses Schweigen bedeute eine implizite Objektivierung des Tieres. "Die Tiere werden im und durch den Prozess" - also nicht bereits durch das crimen - "zu Bestialitätsobjekten gemacht" (80). Viele Angeklagte waren Hirten und mussten die Herden hüten oder auf die Weide treiben. "Somit war der Wald ein Ort, wo Handlungswissen erworben wurde" (122).

Aus Bemerkungen über das Reiben und die Erektion des männlichen Gliedes sei festzustellen, "dass die männlichen Agierenden ein Wissen und Verständnis vom eigenen Körper hatten, das sie in Bezug auf die Praxis der Bestialität einbeziehen konnten" (142). Das Interesse der Richter konzentrierte sich auf die Frage, ob der Geschlechtsakt vollzogen worden war, also die Ejakulation. Der "Flüssigkeitsaustausch" sei, so der Autor, ein Kernelement der Idee gewesen, dass aus dem bestialischen Akt ein widernatürliches Mischwesen hervorgehen konnte (143, vgl. 97 f., 212). Tatsächlich fehlen alle Hinweise auf Formen mythischen Denkens bei den Prozessbeteiligten. Mardones schließt das Kapitel mit dem Fazit: Das praktische Wissen sei von einer Dynamik der Wiederholung und Neuschöpfung geprägt gewesen. "In der bestialischen Praxis ländlicher Jugendlicher und Männer der Frühen Neuzeit manifestierten sich zugleich Anpassung und Eigensinn" (144).

Im theologischen Diskurs galt deviantes Sexualverhalten als Sünde, Bestialität speziell auch als Sünde gegen das 7. Gebot (nach reformierter Zählung), d.h. gegen die Ehe als von Gott eingesetzte Ordnung. Entsprechende Handlungen riefen Abscheu und Entsetzen hervor; die Verlockungen wurden dämonisiert und dem Teufel zugeschrieben, die betroffenen Tiere jedoch nicht als Satans Agenten betrachtet.

Die Gerichtsverfahren wegen Bestialität gestatten einen Blick auf Gefahren und Spannungen, die diese sexuelle Praxis für frühneuzeitliche Männlichkeitsbilder hervorrief - und auf die Aneignung dieser Bilder in einem ländlichen Milieu. Die Bestialität konstruierte das Tier als Teil der sozialen Ordnung und stärkte die Vorstellung einer heterosexuellen Norm. Allerdings verlor der Mann im Akt seine Selbstkontrolle, die in der zeitgenössischen Vorstellung seinen Vorrang in der Geschlechterhierarchie begründete. Es war die Begierde an sich, die diese Männer zur Bestialität bewegte, nicht der Mangel an Kontakt zu Frauen. Zoophilie oder eine emotionale Hinwendung der Angeklagten zu den missbrauchten Tieren lassen sich nicht nachweisen. Bestialität als Handlung belege, dass die "enge Zwangsjacke der reformierten Gesellschaft" doch zerrissen werden konnte. "Sie bezeugte Selbstbestimmung, die mit der Konstituierung und Anerkennung der eigenen Begierde zusammenhing" (237).

Die Furchtbarkeit der Bestialität, so der Autor weiter, bestand in der Gefährdung der Männlichkeit, ihrer 'Unchristlichkeit', Unzüchtigkeit und Unmenschlichkeit. Erwachsene wussten offenbar, dass diese Form der Sünde existierte und hart sanktionierte wurde, Kinder nicht. Es ist anzunehmen, dass bestialische Praktiken nicht immer zur Anzeige kamen, ferner, dass Familien in ihrem sozialen Status innerhalb der Gemeinde Schaden nahmen, wenn ein Familienglied nicht den Werten der Familie und der Gemeinde entsprach. Die Täter waren in ihrer Ehre beschädigt, und ihre Chancen zu heiraten und eine existenzsichernde Arbeit zu finden, verschlechterten sich.

Der Autor stellt sein Talent unter Beweis. Er verarbeitet umfangreiche Literatur und betreibt einen hohen intellektuellen und rhetorischen Aufwand. Gemessen an diesem Aufwand ist der Erkenntnisgewinn freilich gering. Es bestätigt sich durchgehend die Annahme anthropologischer Konstanten. Wer an Einzelheiten bestialischer Praktiken interessiert ist, wird sie im Kinsey-Report zum männlichen Sexualverhalten ausführlich dargestellt finden. Außerdem zeigt sich eine erfolgreiche Normdurchsetzung der Zürcher Obrigkeit.

Eine Schwäche des gewählten Ansatzes besteht darin, Voraussetzungen und Rahmenbedingungen nicht genügend zu klären. Die hauptsächlich betroffenen Tiere waren Rinder. Wir erfahren nichts über das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Menschen und Tieren. Diente die Rinderhaltung allein der Subsistenz oder zielte sie auf den Export von Käse ab? Wie war der Weideauftrieb organisiert und wie die Zucht? Gab es für die Zucht Gemeindebullen? Wie sahen die Gehöfte aus und wie die Ställe? Wie groß und schwer waren die Rinder im Vergleich zu den Menschen? Und auf die Menschen bezogen: Was wissen wir über die Richter? Handelte es sich um Rechtsgelehrte oder Laien? Die einschlägige juristische Literatur wird - anders als die theologische - nicht herangezogen. In welchen sozialen Verhältnissen lebten die Angeklagten? Lassen sich die Mutmaßungen über Ehrverlust und Einschränkung der Heiratsmöglichkeiten verifizieren? Auch wenn die Quellen sicher spärlich fließen: Steuerverzeichnisse und Kirchenbücher werden vermutlich existieren.

Davon abgesehen: Die Arbeit lässt sich gut lesen und vertieft das Bewusstsein für Mensch-Tier-Beziehungen.

Rezension über:

Jose Cáceres Mardones: Bestialische Praktiken. Tiere, Sexualität und Justiz im frühneuzeitlichen Zürich (= Tiere in der Geschichte | Animals in History; Bd. 1), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2022, 343 S., 4 s/w-Abb., 3 Tbl., ISBN 978-3-412-52490-6, EUR 60,00

Rezension von:
Brage Bei der Wieden
Niedersächsisches Landesarchiv, Hauptstaatsarchiv, Hannover
Empfohlene Zitierweise:
Brage Bei der Wieden: Rezension von: Jose Cáceres Mardones: Bestialische Praktiken. Tiere, Sexualität und Justiz im frühneuzeitlichen Zürich, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 2 [15.02.2023], URL: https://www.sehepunkte.de/2023/02/37202.html


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