Der Sammelband Nordrhein-Westfalen und der Imperialismus ist die umfangreiche Dokumentation einer Konferenz, die im Juni 2021 online stattfand. In insgesamt 24 Beiträgen, unterteilt in eine einführende und sechs thematische Sektionen, denen die Grußworte der ehemaligen Ministerin für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein Westfalen, Isabel Pfeiffer-Poensgen, und der ghanaischen Archäologin Gertrude Aba Mansah Eyifa-Dzidzienyo vorangestellt sind, beleuchten die Beiträge die vielschichtigen Verstrickungen des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen in (vornehmlich deutsche) imperiale Projekte und Netzwerke. Damit leisten die Herausgeber:innen und die Autor:innen einen wichtigen, und vor allem unmittelbaren Beitrag zu gegenwärtigen Debatten und Diskursen rund um das Thema deutsche Kolonialgeschichte. Dass die Herausgeber:innen innerhalb gut eines Jahres diesen Sammelband publiziert haben, der nicht nur den Großteil der Konferenzbeiträge, sondern auch zusätzliche Artikel beinhaltet, ist beachtlich und angesichts der Aktualität des Themas sehr zu begrüßen.
Die drei Artikel der Sektion "Einführungen" sind als programmatische Orientierungen zu verstehen. In der allgemeinen Einführung legen zunächst die Herausgeber:innen ihren Ansatz einer Untersuchung des "Kolonialismus vor Ort" (17) überzeugend dar. Im Gegensatz zur Makrogeschichte der Nation und der partikularen Betrachtung einzelner Städte, lenkt dieser Band das Augenmerk auf die "regionale Verortung des Kolonialismus" (18-19) und komplementiert damit einerseits regionale Studien zu anderen Bundesländern und anderseits bereits bestehende Forschung zur Kolonialgeschichte einzelner Metropolen (siehe hierzu z.B. den von Marianne Bechhaus-Gerst und Anne-Kathrin Horstmann herausgegebenen Band Köln und der deutsche Kolonialismus: Eine Spurensuche, 2013). Dieser Fokus auf eine "mittlere Ebene" (19) erweist sich als äußerst gewinnbringend, denn eine Vielzahl der folgenden Artikel (z.B. von Schulte Beerbühl, Kleinöder, Donay, Rösser) zeigen insbesondere die wirtschaftlichen Netzwerke auf, die deutsche imperiale Strukturen nutzten oder diese maßgeblich mit aufbauten. Die beiden folgenden Beiträge von Ulrike Lindner und Anne Kluger markieren zwei thematische Schwerpunkte des Bandes: Zum einen arbeitet der Band bewusst nicht mit dem Begriff Kolonialismus, sondern präferiert den Begriff Imperialismus, den Ulrike Lindner in ihrem Beitrag erläutert und für den Band operationalisiert. Zum anderen wird in Nordrhein-Westfalen und der Imperialismus immer wieder und in unterschiedlichen Facetten die zentrale Rolle einzelner Akteure innerhalb ihrer regionalen Handlungsfelder sichtbar. Dementsprechend fragt Anne Kluger in ihrem Beitrag nach einem "adäquaten Umgang" mit Dokumenten und insbesondere Selbstzeugnissen von kolonialen Akteur:innen für die Geschichtswissenschaft (48).
Der Begriff Imperialismus rückt Strukturen, Akteure und Handlungen jenseits deutscher Kolonialpolitik ins Blickfeld. Diese Begriffserweiterung bietet zweifelsohne vielen Beiträgen eine produktive thematische Offenheit (siehe u.a. die Beiträge von Theilhaber, Wegmann, Schulten, Froese, Frey, Rispler, Neumann). Dies sei hier kurz anhand eines Beitrags erläutert: In "Kolonialismus, die deutsche Kolonie Buenos Aires und rheinische Unternehmerfamilien, 1820-1930" stellt Isabelle Rispler sofort die zentrale Frage: "Sind rheinische Unternehmerfamilien in Buenos Aires, Argentinien, um 1820 Teil deutscher Kolonialgeschichte?" (301). Ihr Beitrag ist eine sehr produktive Verkomplizierung der zeitlichen und geographischen Koordinaten des deutschen Kolonialismus und bringt diesen mit Migrationsgeschichte zusammen. Dies ermöglicht ihr, lange vor der deutschen Staatsgründung expansive unternehmerische Tätigkeiten und Kollaboration im Sinne es eines "informellen Imperialismus" (304) beschreibbar zu machen.
Während die Begriffsoffenheit in Risplers Beitrag erkenntnisgenerierend reflektiert wird, thematisieren andere Beiträge den Bezug ihres Untersuchungsgegenstandes zu deutschen imperialen Bestrebungen impliziter und hätten sich offensiver solch einer Gretchenfrage für ihr jeweiliges Thema stellen können. Oliver Schulten beispielsweise legt in seinem sehr fundierten und wichtigen Beitrag zu Sklaverei und Kolonialwarenhandel auf eindrucksvolle Weise die persönlichen Netzwerke und Verstrickungen von Kaufleuten in der Region des Wuppertals mit dem transatlantischen Sklavenhandel dar. Diese Verstrickungen können zweifelsohne als ein wichtiger Vorläufer späterer deutscher imperialer Bestrebungen gesehen werden, lieferten sie nicht nur wichtige Rohstoffe, sondern versuchten auch neue Absatzmärkte zu schaffen. Dieser zentrale Bezugsrahmen wird allerdings nur kurz und beiläufig erwähnt (215).
Neben dem Fokus auf imperiale Verstrickungen legt der Band, wie eingangs bereits angemerkt, anhand von Anne Klugers programmatischem Beitrag "Analysieren statt reproduzieren" in der einführenden Sektion des Buches besonderes Augenmerk auf den Umgang mit Dokumenten kolonialer Akteur:innen. Die Autorin nimmt Heinrich Schulte-Altenroxels Selbstzeugnis Ich suchte Land in Afrika (1942) als Fallbeispiel anhand dessen sie eine überzeugende methodische Reflektion über den Umgang mit historischen Quellen in postkolonialen Kontexten anstellt. Klugers Beitrag ist ein Nachdenken über Problematiken im Umgang mit solchen Dokumenten. Diese bergen zum Beispiel die Gefahr einer Fortschreibung der Perspektive kolonialer Akteur:innen und können selbst in ihrer kritischen Reflektion zur Reproduktion von Stereotypen beitragen. Kluger stellt die regionalen Bezüge des Autors als ein selbstproklamierter Kolonial- und Afrikaexperte aus dem Münsterland (47) heraus und konzentriert sich nicht so sehr auf die zentralen Protagonist:innen des deutschen Imperialismus, sondern zeigt individuelle und regionale Verstrickungen auf. Damit ist Klugers Beitrag, wie auch Lindners, richtungsweisend. Die Mehrheit der folgenden Beiträge legt ein besonderes Augenmerk auf regionale Akteur:innen, indem sie beispielsweise die Lebenswege verschiedener Individuen und insbesondere deren persönliche Netzwerke nachzeichnen. Im Kontext der Sklavereiforschung hat dies Klaus Weber in zahlreichen Veröffentlichungen u.a. im Hinblick auf die Beteiligung deutscher Kaufleute und Hersteller, wie beispielsweise die Osnabrücker Leinenweber, deren Leinentuch die versklavten Menschen in Amerika und der Karibik trugen, dargelegt. Neben Kaufleuten, Gewerbe- und Handelsbetrieben zeigt der vorliegende Band auch den Mehrwert einer Untersuchung dieser persönlichen Netzwerke in anderen Bereichen, wie beispielsweise Kolonialvereinen, Museumssammlungen oder der Missionarsgeschichte. Besonders hervorzuheben sind in diesem Kontext die Beiträge von Amir Theilhaber und Arndt Neumann. Theilhaber untersucht die außereuropäische Sammlung des Landesmuseums Lippe. Dabei stellt er explizit die Sammler:innen in den Mittelpunkt seiner Untersuchung. Während die Sammlung sehr divers ist, lassen sich mithilfe der Biographien und Dokumente der Sammler:innen Provenienz und kulturelle Erwerbungs- und Ursprungskontexte sinnvoll untersuchen und geben Aufschluss über die "globale Mikrogeschichte der lippischen 'Provinz'" und der vielfältigen imperialen Verstrickungen ihrer Sammler:innen (180). Auch Arndt Neumanns Beitrag untersucht jenseits konventioneller Narrative und Protagonist:innen des Imperialismus, dessen Komplexität und Dynamik. In eindrucksvoller Weise zeigt Neumann, wie der Mäzen und Gründer des Hagener Folkwang Museums Karl Ernst Osthaus in engem Austausch mit führenden Künstlern der Moderne die Industriestadt Hagen zu einer Vorreiterin moderner Kunst und Architektur machen wollte. Dabei spielte eine Orientierung hin zum Orient, der als Möglichkeit der Abgrenzung gegen veraltete europäische Traditionen und als Möglichkeit einer modernen deutschen aber durchaus imperialen und dazu auch antisemitischen Vormachtstellung galt, eine zentrale Rolle. Diese komplexen und durchaus widersprüchlichen Vorstellungen des Museumgründers, die ihn einerseits als Bewunderer des Orients und die "Mohammedaner" als Freunde und Verbündete identifizieren und anderseits sich als unverhohlene Fantasien einer deutschen Groß- und Kolonialmacht entpuppten, stellt Neumann nuanciert und überzeugend heraus.
Der Sammelband unterteilt sich, wie bereits erwähnt, in sechs thematische Sektionen: "Wirtschaft", "Sammlungen", "Regionale Spektren", "Migration und Reisen", "Propaganda und Erziehung" und "Kolonialismus ohne Kolonien?". Diese Einteilung ist sinnvoll, da sie thematische Affinitäten sichtbar macht. Es lassen sich darüber hinaus jedoch auch noch viele weitere Verknüpfungen finden. So gibt es beispielsweise mehrere Artikel, die sich insbesondere mit der Region Lippe und deren kolonialen Netzwerken auseinandersetzen (siehe u.a. die Beiträge von Jensz und Koch, Theilhaber, Sunderbrink, Frey). Da die Herausgeber:innen zu Recht die Verschränkung von Missionarsarbeit und Imperialismus im deutschen Kontext als Forschungsdesiderat herausstellen, hätte man auch Artikel, die sich dezidiert mit Missionsarbeit (im Museum, aus historischer Perspektive und aus biographischer Sicht kolonisierter Subjekte) befassen, zusammen gruppieren können (wie z.B. die Beiträge von Wegmann, Froese, Möller). Diese inhaltliche Vernetzung der Artikel untereinander zeigt einmal mehr den Gewinn einer Betrachtung regionaler Räume, Handlungsfelder und persönlicher Netzwerke. Da der Sammelband jedoch leider über keinen Index verfügt, bleibt Lesenden hier die Möglichkeit verwehrt, artikelübergreifend und -unabhängig Verbindungen herzustellen und wiederkehrende Akteure und Quellen schnell zu identifizieren. Ein Index hätte zudem die beeindruckende Bandbreite der Akteure, Institutionen und Regionen, die in diesem Sammelband thematisiert werden, verdeutlicht.
In der letzten Sektion "Kolonialismus ohne Kolonien" sind die drei Beiträge der Herausgeber:innen (Michels, Bechhaus-Gerst, Fechner) versammelt. Ich sehe diese letzte Sektion nicht so sehr als einen Abschluss, sondern vielmehr als eine Einladung zu weiterer Forschung. Insbesondere die Beiträge von Stefanie Michels zu anti-kolonialem Widerstand und von Fabian Fechner zu Erinnerungskultur in diesem Abschnitt richten den Blick ab von kolonialen Akteur:innen und hin zu anti-kolonialen Perspektiven und in die Gegenwart. Stefanie Michels Beitrag zu "Anti-Imperialismus an Rhein und Ruhr in der Weimarer Republik" ist leider der einzige Beitrag, der sich dezidiert mit Widerstandsformen ehemals kolonisierte Akteur:innen und Allianzen anti-kolonialer Vereinigungen mit beispielsweise der deutschen Arbeiterbewegung beschäftigt. Wie die Herausgeber:innen bereits in ihrer Einführung konstatieren, "Studien zur afrodeutschen Präsenz sowie generell zur Präsenz von Menschen aus ehemaligen - und nicht nur deutschen - Kolonialgebieten im heutigen Nordrhein-Westfalen" sind unterrepräsentiert (28). Das stimmt! Bis auf Eckhard Möllers Beitrag, in dem das Leben Paul Matjamwo Mavanzilla, eines im Kontext einer Kolonialexpedition im heutigen Grenzgebiet von Angola und der Demokratischen Republik Kongo verschleppten Jungen, der in Deutschland eine Missionarsausbildung erhielt, nachgezeichnet wird, sind Perspektiven kolonisierter Menschen in Deutschland oder aus ehemaligen Kolonien oder Menschen, die deutschen imperialen Unternehmungen kritisch gegenüberstanden, gänzlich abwesend. Wie wäre eine Folgekonferenz und -publikation, die de-koloniale Perspektiven in den Mittelpunkt stellt? Diese könnte den Blick von der nationalen Makroebene, die in Marianne Bechhaus-Gerst und Joachim Zeller 2021 erschienenen Band Deutschland Postkolonial? Die Gegenwart der Imperialen Vergangenheit ausführlich behandelt wird, auf "Postkolonialismus vor Ort" in Nordrhein-Westfalen richten.
Marianne Bechhaus-Gerst / Stefanie Michels / Fabian Fechner (Hgg.): Nordrhein-Westfalen und der Imperialismus, Berlin: Metropol 2022, 484 S., ISBN 978-3-86331-654-9, EUR 29,00
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