Forschungen zu Grenzen im Europa des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit haben in den letzten Jahren die räumlichen Dimensionen von vormoderner Herrschaft ausgelotet. Im Mittelpunkt standen dabei vor allem die westeuropäischen Monarchien. In jüngerer Zeit ist in diesem Zusammenhang auch das Heilige Römische Reich mit seiner überaus heterogenen Territorialstruktur ins Blickfeld geraten. Dabei ist deutlich geworden, dass Grenzziehungen eine wichtige Rolle bei der Ausbildung von Landesherrschaft und territorialer Souveränität gespielt haben, aber letztlich nur ein Element in einem vielschichtigen Prozess der herrschaftlichen Aneignung von Raum bzw. der Durchsetzung räumlicher Herrschaft gewesen sind. Das 'doing territory', also die Herstellung und Reproduktion eines Herrschaftsraums in der politischen und administrativen Praxis, fand nicht nur an den Grenzen eines Territoriums statt, sondern auch an seinen zentralen Orten und nicht zuletzt in der Fläche. [1]
Hier setzt die Studie von Luca Scholz an, die auf eine am European University Institut in Florenz verteidigte Dissertation zurückgeht. Im Mittelpunkt stehen weniger die titelgebenden "borders" als vielmehr das "freedom of movement" und genauer die Praxis des Geleits, also die (bewaffnete) Begleitung von reisenden Fürsten, Kaufleuten usw. durch ein Territorium. Es wurde seitens des jeweiligen Landesherrn zum Schutz von Menschen und Gütern gewährt, war aber zugleich eine Machtdemonstration mit Blick auf die tatsächlichen oder auch nur beanspruchten Herrschaftsrechte über einen bestimmten Raum. "The history of safe conduct in the Old Reich offers an opportunity to make the ordering of movement a part of the wider history of state-building" (3).
Grundlage der Analyse sind Recherchen in zwanzig Archiven, unter anderem in den Staats- bzw. Landesarchiven in Bremen, Dresden, Magdeburg, Meiningen, München, Nürnberg, Stuttgart, Weimar, Wertheim und Würzburg sowie den Stadtarchiven in Frankfurt und Lübeck, in denen ein breiter Querschnitt der Überlieferung mit Blick auf Verfassung, Größe, Konfession usw. ganz unterschiedlicher Territorien des Reiches greifbar ist. Gleichwohl geht es dem Autor nicht um eine staatszentrierte Perspektive, deren Einseitigkeit überdeutlich wird, berücksichtigt man die "frequent opposition and sometimes insurmountable difficulties that officials faced when they attempted to enforce the prerogatives of their rulers" (8). Vielmehr will Scholz die Aushandlungsprozesse vor Ort, "at ground level" (9), in den Blick nehmen, bei denen die Motivationen und Zwänge der beteiligten Individuen, aber auch die Interaktion bzw. das Gegeneinander der unterschiedlichen politischen Ebenen des Reiches sichtbar werden.
Um möglichst nah am Boden zu bleiben und zugleich die Komplexität der untersuchten Phänomene in ihrer systematischen Bedeutung für die Geschichte des Reiches und seiner Territorien nicht aus dem Auge zu verlieren, bringt Scholz eine Reihe von territorialen Fallstudien, ergänzt diese aber zugleich um weitere Quellenbeispiele aus anderen Territorien und übergreifende Betrachtungen. Er geht dabei nicht chronologisch vor, sondern gruppiert seine Kapitel anhand ausgewählter Problemkomplexe, die jeweils anhand eines Fallbeispiels diskutiert werden. Während das erste Kapitel ("The Ordering of Movement") einführenden Charakter hat und einen Überblick über die "regimes of movement" (14) und insbesondere die Geschichte des Geleits im Heiligen Römischen Reich vom Mittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts gibt, werden im zweiten ("Theatres of Transit") anhand der Grafschaft Wertheim im späten 16. Jahrhundert die sogenannten Geleitsprozessionen analysiert, bei denen die Landesherrschaft Reisende in einem symbolisch aufgeladenen Setting durch das Territorium lenken ließ. Im dritten Kapitel ("Boundaries") geht es um die Bedeutung von Geleitsrechten bei der Aushandlung von Grenzen, wobei hier anhand von bayerischen Geleitsdisputen des 17. Jahrhunderts nicht zuletzt die mediale Dimension, das heißt der Gebrauch von Karten, diskutiert wird. Das vierte Kapitel ("Channeling Movement") beschreibt anhand von Thüringen, also einer territorial sehr stark fragmentierten Region, welche Maßnahmen die verschiedenen landesherrlichen Administrationen ergriffen, um Güter und Menschen durch ihre Herrschaftsgebiete zu schleusen und Gebühren einzunehmen, etwa die Verwendung von Pässen, die Kanalisierung des Verkehrs auf wenigen erlaubten Straßen sowie Kontrollen an Zollstationen und durch Patrouillen. Das fünfte Kapitel ("Protection") zeigt, wie das Argument des Schutzes der Reisenden von der Reichsstadt Bremen immer wieder genutzt wurde, um die Durchsetzung der eigenen herrschaftsräumlichen Agenda entlang der Weser gegenüber den benachbarten Territorien zu legitimieren. Im sechsten Kapitel ("Freedom of Movement") wird schließlich die diskursive Auseinandersetzung über das Verhältnis von Mobilität und Landesherrschaft in der juristischen Literatur und in der Publizistik analysiert.
Für die Diskussion herrschaftsräumlicher Logiken im vormodernen Reich sind zwei Aspekte des Buches besonders hervorzuheben. Zum einen macht Scholz deutlich, dass im Reich - trotz der territorialen Zergliederung und der Unterschiedlichkeit der regionalspezifischen Verhältnisse - grundsätzlich der Verkehr von Personen und Gütern gewährleistet war, die Landesherrschaften zugleich aber versuchten, diese Mobilität in ihrem Sinne zu kanalisieren, um davon fiskalisch und insbesondere machtpolitisch zu profitieren. Zum anderen zeigt die Studie die diesbezüglich lange Persistenz mittelalterlicher Raumregime, die vergleichsweise geringe Bedeutung von Grenzen gegenüber Stadttoren, Zollstationen und strategisch kontrollierbaren Wegstellen, die Verknüpfung von Mobilität und sozialem Status, wobei ein hoher Rang die Freizügigkeit mitunter aufgrund zeremonieller Notwendigkeiten eher einschränkte, und die Notwendigkeit des Aushandelns von Mobilität und herrschaftsräumlichen Settings. Erst im 18. Jahrhundert zeigten sich - zumindest ansatzweise - Veränderungen hinsichtlich der Bedeutung von Grenzen als Kontrollpunkte, wofür Scholz eindrückliche Kartierungen vorlegt (111-115, 122f.), sowie ein Niedergang des zeremoniellen Aufwandes beim Geleit. "Thus the early modern history of free movement introduced new elements while maintaining many older traits" (10), ein Ergebnis, dass sich mit meinen eigenen Analysen zu Kontinuität und Wandel von räumlicher Herrschaft im vormodernen Reich deckt. [2]
Interessanterweise will Scholz sein Thema nicht nur für das Reich diskutieren, sondern betont schon eingangs, wie wichtig es sei, die Geschichte des Reiches in einen internationalen Forschungskontext zu rücken und damit die vieldiskutierte Einzigartigkeit dieses 'monstrum simile' zu relativeren. "Rather than perpetuating the vision of the Empire as an incommensurable political body, I will highlight its commonalities with other polycentric, fragmented, and multilayered political formations of the early modern world, such as the Ottoman Empire or Tokugawa Japan" (3). So interessant und sinnvoll diese Perspektive ist, so deutlich wird im Verlauf der Lektüre des Buches allerdings, wie schwierig es ist, ein solches Vorhaben umzusetzen. [3] Letztlich bleibt es bei kleineren Ausblicken auf andere komplex strukturierte 'Großreiche', die sicherlich spannend sind und Denkanstöße für vergleichende Forschungen liefern, die Argumentation zum eigentlichen Thema aber nicht voranbringen.
Für die Qualität des Buches und die Überzeugungskraft der darin ausgebreiteten Argumentation ist dies freilich unerheblich. Es handelt sich um eine überaus gelungene Arbeit, die nicht nur stringent argumentiert, sondern durch die Konzentration auf einzelne Fallbeispiele auch sehr anschaulich geschrieben ist. Gerade im Wechsel zwischen der territorialen Perspektive auf der einen und dem übergreifenden systematischen Zugriff auf der anderen Seite liegt die historiographische Kunst bei der Auseinandersetzung mit dem vormodernen Reich und seinen Territorien. Luca Scholz' Buch ist hierfür ein Musterbeispiel.
Anmerkungen:
[1] Vgl. hierzu Andreas Rutz: Doing territory. Politische Räume als Herausforderung für die Landesgeschichte nach dem 'spatial turn', in: Sigrid Hirbodian, Christian Jörg, Sabine Klapp (Hgg.): Methoden und Wege der Landesgeschichte (Landesgeschichte 1). Ostfildern 2015, 95-110.
[2] Andreas Rutz: Die Beschreibung des Raums. Territoriale Grenzziehungen im Heiligen Römischen Reich (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 47). Köln / Weimar / Wien 2018.
[3] Vgl. in diesem Zusammenhang jüngst auch den Sammelband von Jan Bemmann / Dittmar Dahlmann / Detlev Taranczewski (Hgg.): Core, Periphery, Frontier - Spatial Patterns of Power (Macht und Herrschaft. Schriftenreihe des SFB 1167 "Macht und Herrschaft - Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive" 14). Göttingen 2021. Mit diversen Fallbeispielen aus ganz unterschiedlichen kulturellen Kontexten, die interessante Ansatzpunkte für vergleichende Überlegungen bieten, letztlich aber doch weitgehend nebeneinanderstehen.
Luca Scholz: Borders and Freedom of Movement in the Holy Roman Empire (= Studies in German History), Oxford: Oxford University Press 2020, 288 S., 10 Kt., 8 s/w-Abb., ISBN 978-0-19-884567-6, GBP 60,00
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