Hinrich Lohse war seit 1925 NSDAP-Gauleiter und ab 1933 Oberpräsident der Provinz Schleswig-Holstein gewesen. 1941 wurde er zum Reichskommissar Ostland ernannt und war damit unmittelbar am Holocaust beteiligt. Doch nicht einmal dieser führende schleswig-holsteinische Nationalsozialist war nach 1945 als "Hauptschuldiger" eingestuft worden.
Bei der vorliegenden Gemeinschaftsarbeit handelt es sich um die zweite Studie der Forschungsstelle für regionale Zeitgeschichte und Public History an der Europa-Universität Flensburg, nachdem Uwe Danker mit Sebastian Lehmann-Himmel im Jahr 2017 bereits eine Studie über die NS-belasteten Landtagsabgeordneten und Regierungsmitglieder publiziert hatte. [1] Nun sollten auch andere Trägergruppen aus der Kommunalpolitik, Landessozialverwaltung, Polizei sowie den Justizjuristen und Siedlungsexperten in den Blick genommen werden. Die voluminösen Bände fragen "nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten in schleswig-holsteinischen Funktionseliten nach 1945" (14), wie Danker einleitend ausführt. Die von einem Team von zehn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern um Danker vorgenommene Untersuchung berücksichtigt ein Sample von 482 Personen, die in einer Projektdatenbank erfasst wurden. Kennzeichnend ist jedoch vor allem die bereits in der Vorgängerstudie angelegte Methodik, die "einen methodischen Mittelweg zwischen totalbiografischer Arbeitsweise und einfacher Statistik" (48) darstelle. Das komplexe Forschungsdesign unterscheidet sich dabei von bisherigen Kontinuitätsstudien. So werden die untersuchten Akteure in verschiedene Gruppen klassifiziert. Einer Bandbreite von fünf Grundorientierungen (von "exponiert/nationalsozialistisch" bis "exkludiert/oppositionelle") folgt eine Verfeinerung mithilfe von unterschiedlichsten Typisierungen, um so kollektivbiografische Profile herausschälen zu können.
In fünf übergeordneten, jeweils thematisch unterteilten Kapiteln mit insgesamt 20 Beiträgen widmen sich die Autorinnen und Autoren Fragen der Konzeptualisierung ihrer Studie und des Nachlebens des Nationalsozialismus in politischer Kultur und Sprache und stellen lokale Fallstudien sowie personale Fallbeispiele vor.
Neben einer kollektivbiografischen Perspektive auf die ehemaligen NS-Funktionseliten findet zunächst vor allem der Kommunikationsraum "Landespolitik" besondere Beachtung (II. Kapitel). Ann-Kathrin Hoffmann fragt am Beispiel der Auseinandersetzungen um den für die brutale Niederschlagung des Warschauer Aufstands verantwortlichen SS-Führer und späteren Bürgermeister der Stadt Westerland/Sylt Heinz Reinefarth sowie der Heyde/Sawade-Affäre um den Psychiater Werner Heyde nach dem vergangenheitspolitischen Umgang der Landtagsabgeordneten und dem Einfluss auf die politische Kultur in dem Bundesland. Mit den vergangenheitspolitischen Plenardebatten des Kieler Landtags in den verschiedenen Wahlperioden setzen sich die drei Beiträge von Marlen Charlotte Lommer, Karl Piosecka sowie Jürgen Weber auseinander.
Das umfangreichste III. Kapitel gliedert sich in die Abschnitte "Kommunalpolitik", "Juristen", "Spezifische Gruppen" und "Einzelpersonen". So behandeln drei Aufsätze die NS-Belastung von Kommunalpolitikern in Flensburg (Sebastian Lotto-Kusche/Leah Zeidler) und Süderdithmarschen (Melanie Oertel/Leah Zeidler sowie Willy Schulz). Thomas Reuß unterzieht die in dem Sample der Studie erfassten Staatsanwälte wiederum einer gruppenbiografischen Untersuchung. Dabei ist jedoch fraglich, ob der der Studie zugrundeliegende Typisierungsvorschlag in "systemtragend/karrieristisch" beziehungsweise "exponiert/nationalsozialistisch" angesichts des heutigen Wissens über die NS-Justiz wirklich erkenntnisfördernd sein kann. Anhand von drei exemplarischen Fällen zeichnet Stephan Alexander Glienke die nicht erfolgte strafrechtliche Verfolgung von an dem nationalsozialistischen Sondergericht Prag tätigen Juristen nach. Alle drei Männer - Erwin Albrecht, Werner Rohde und Kurt Bellmann - waren an Unrechtsurteilen maßgeblich beteiligt, hatten in der Bundesrepublik ihre Karrieren fortsetzen können und wurden nie verurteilt, weil ihnen Rechtsbeugung bei den verhängten Todesurteilen nicht nachgewiesen werden konnte. Deutlich wird insbesondere, wie sich die nun angeklagten NS-Juristen erfolgreich selbst verteidigten. Ihre Todesurteile seien als "nicht zu beanstanden" (705) zu betrachten, hieß es. Ein Aufsatz aus juristischer Perspektive von dem ehemaligen Landgerichtspräsidenten Hans-Ernst Böttcher schließt den Abschnitt ab. Böttcher hat in seiner "Skizze einer desiderablen Forschungslandschaft" einen umfangreichen Fragenkatalog entwickelt. Weitere Beiträge befassen sich mit den an den schleswig-holsteinischen Sozialgerichten als Gutachter tätigen Medizinern und Medizinerinnen (Jan Waitzmann), mit dem in der NS-Siedlungspolitik aktiven Personal, insbesondere den "Siedlungsexperten" der Gesellschaft für innere Kolonisation (GFK), und ihrem Verbleib im Landwirtschaftsministerium (Melanie Oertel mit Sebastian Lotto-Kusche) sowie mit den Handlungsräumen von Frauen im Nationalsozialismus, genauer in den Bereichen der Medizin, der Weiblichen Kriminalpolizei, der Bildung und Justiz sowie in der Sozialdemokratie (Ann-Kathrin Hoffmann et al.). Zwei Teilstudien zu zwei herausragenden kulturpolitischen Akteuren - dem Museumsdirektor Alfred Kamphausen (Marie-Theres Marx) und dem Prähistoriker Herbert Jankuhn (Robert Bohn) - schließen den Abschnitt ab.
Die folgenden beiden Kapitel (IV. und V.) umfassen zum einen den von Uwe Danker vorgelegten zusammenfassenden Bericht der Ergebnisse der Gesamtstudie. Zum anderen liefern Stephan Alexander Glienke und Sebastian Lotto-Kusche in dem mit "Anfügungen" überschriebenen Abschnitt fachwissenschaftliche Hintergrundbeiträge zum Referenzraum der Studie, zur Verwendung von Personenstandsdaten in zeithistorischen Arbeiten sowie zu Recherchestrategien.
Zahlreiche Diagramme und Abbildungen erleichtern das Verständnis des methodischen Zugangs und der erzielten empirischen Ergebnisse, das Personenregister die Handhabe der umfangreichen Studie. Personennachweise und eine Legendendatenbank machen zumindest die ermittelten Ergebnisse transparent. Zugleich jedoch verstärkt die Präsentation des Datenmaterials eher das Bild einer befrachteten empirischen Studie, deren Ergebnisse sich so leicht nicht auf eine gemeinsame Formel werden übertragen lassen können.
So verliert sich die übergeordnete These einer von den Funktionseliten "geteilten Verstrickung". Gleichwohl zeigt allein der Umstand dieser zweiten Kontinuitätsstudie die Notwendigkeit der Förderung landes- und regionalhistorischer Forschung zum Fortwirken des Nationalsozialismus nach 1945. Die von Danker et al. vorgelegte Arbeit wird für weitere Tiefenbohrungen zu den NS-Funktionseliten (nicht nur) in Schleswig-Holstein handlungsleitend sein. Zu wünschen wäre zudem, dass die akribische Untersuchung zum nördlichsten Bundesland Nachfolger in anderen Bundesländern fände.
Anmerkung:
[1] Ana Lena Werner: Rezension von: Uwe Danker / Sebastian Lehmann-Himmel: Landespolitik mit Vergangenheit. Geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung der personellen und strukturellen Kontinuität in der schleswig-holsteinischen Legislative und Exekutive nach 1945, Husum 2017, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 4 [15.04.2019], URL: https://www.sehepunkte.de/2019/04/32471.html [14.06.2023].
Uwe Danker (Hg.): Geteilte Verstrickung. Elitenkontinuitäten in Schleswig-Holstein, Husum: Husum Druck- und Verlagsgesellschaft 2021, 1174 S., 2 Bde, ISBN 978-3-96717-061-0, EUR 59,95
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