Der Augsburger Kirchenhistoriker Jörg Ernesti hat mit dem vorliegenden Buch eine bemerkenswerte Studie erstellt, die auch als ein logisches Folgewerk seines bisherigen Œuvres gesehen werden kann. Schließlich gilt er mit seinen biografischen Werken zu Leo XIII., Benedikt XV. und Paul VI. als einer der etabliertesten Experten für die Papstgeschichte des 20. Jahrhunderts.
Ernesti bietet einen Einblick in die diplomatische Tätigkeit des Vatikans seit 1870, als der Kirchenstaat angesichts der Eroberung durch den italienischen Nationalstaat von einem Territorial- zu einem innerrömischen Zwergstaat schrumpfte. Er betrachtet die Strategien und Entscheidungen, die der Heilige Stuhl seit dem Zerfall herkömmlicher Machtstrukturen verfolgt und getroffen hat. Ernesti möchte keine umfassende und tiefgründige Analyse erarbeiten - ein Vorhaben, das mit der dargestellten Fragestellung aussichtslos wäre. Vielmehr gibt er einen fundierten Überblick über die (kirchen-)historischen Verläufe des päpstlichen Diplomatiegebarens in den vergangenen 150 Jahren.
Die Arbeit mit der zu diesem Thema erschienenen wissenschaftlichen Literatur liegt dem Autor sichtlich. Sie ist im besonderen Maße hervorzuheben, da er weit über den im deutschsprachigen Raum gängigen mitteleuropäisch-angelsächsischen Tellerrand hinausschaut und insbesondere die vielschichtige italienische Forschungslandschaft in den Blick nimmt. Seine kundige Auswahl relevanter Studien ist wohltuend sachdienlich, denn die italienische Literatur dazu zeichnet sich nicht nur durch hohe Quantität aus, die sich aus einem situations- und konjunkturbedingt publizistischen Massenbetrieb speist, sondern bietet auch viele inhaltlich hervorragende, methodisch einwandfreie Analysen.
Das Werk ist im Wesentlichen in drei Teile aufgefächert, von denen der zweite Teil "Ein Gang durch die Geschichte" der umfangreichste ist. Angenehm ist im ersten Teil des Buches - neben Positionsbestimmung und historischer Einleitung - die ausführliche Begriffs- und (historische) Konzeptklärung. Leserinnen und Leser erhalten also nicht nur spezifische Informationen, sondern auch eine kurze Hinführung zum Spannungsfeld päpstlicher versus weltlicher Macht.
Der Hauptteil zeichnet sich durch eine klare Struktur aus. Ernesti führt dabei mit einer streng biografisch-chronologisch geordneten Historiographie durch die Pontifikate von Leo XIII. bis Franziskus. Zunächst aber wird das Pontifikat Pius IX. als in seiner Endphase fundamentale Zäsur thematisiert, sah sich doch der Heilige Stuhl mit der Auflösung des bisherigen Kirchenstaates konfrontiert. Hier wird das Konzept erkennbar, die Pontifikate aus europa- und welt-(kirchen-)geschichtlicher und nicht vordergründig aus biografischer Perspektive zu beleuchten.
Auf beeindruckende Weise gelingt es dem Autor in diesem Kapitel, komplexe politische Zusammenhänge verständlich darzustellen. Er erklärt anschaulich die unterschiedlichen Herausforderungen, mit denen die päpstliche Außenpolitik konfrontiert war, und zeigt auf, wie der Heilige Stuhl mit dem Papst an der Spitze auf (welt-)kirchliche und politische Entwicklungen im internationalen Raum reagierte. Dabei werden stets die jeweils relevanten Wechselwirkungen zwischen Religion, Kirche, Diplomatie und Geopolitik deutlich. Die wichtige Fokussierung auf eine Untersuchung der vatikanischen Außenpolitik im Spannungsfeld der beiden Weltkriege, des Kalten Kriegs und der dazugehörigen Zwischenzeiten macht das Buch auch zu einem Überblickswerk der Diplomatiegeschichte des 20. Jahrhunderts mit besonderem Schwerpunkt.
Der Autor verdeutlicht dabei, wie der Vatikan eine nach und nach international anerkannte Rolle als Vermittler, Moderator und Friedensapologet einnahm und dabei eine konzeptionell wertebasierte Außenpolitik betrieb, die theologisch fundiert war und dem Anspruch nach global agierte. Die Entstehung dieser Rolle als moralischer, politischer, aber auch diplomatischer Referenzpunkt im Konzert der Großmächte und der Blockkonfrontation(en) nach dem Zweiten Weltkrieg ist dabei richtigerweise ein wichtiger Argumentationsstrang Ernestis. Dabei legt er zu Recht Wert darauf, dies nicht einfach nur als formal-strukturell neutralitätsgeleitete konzeptionelle Ausformung von Diplomatie in Konfliktsituationen darzustellen. Vielmehr charakterisiert er die vatikanische Außenpolitik als Überparteilichkeit im Dienst der Menschheit, die zentral auf die Bewahrung der Schöpfung orientiert ist. Dabei werden auch wichtige theologische Debatten und die Rolle biografischer Bedingtheiten der Päpste in der Formulierung und Umsetzung ihrer Außenpolitik nicht außer Acht gelassen.
Das Buch bietet darüber hinaus Einblicke in die interne Konzeptionsbildung und in die Entscheidungsfindungsprozesse des Vatikans. Hier könnte man sich zwar vertiefende Einblicke in diese Prozesse wünschen. Aber gerade in der Begrenzung liegt eine Stärke des Buches: Ernestis Anliegen ist es eben nicht, in allen Belangen Analysen der internen Mechanismen und Akteur-Netzwerke päpstlicher Außenpolitik zu liefern. In das Dickicht moderner vatikanischer Diplomatie, Politik und Theologie schlägt er mit seinem Buch gleichsam Schneisen, die ein grundsätzliches Verständnis evozieren und die weitere Forschung dazu ermutigt, kontextspezifische Tiefenbohrungen vorzunehmen, die schließlich ermöglichen, ein vollständigeres Bild der vatikanischen Außenpolitik zu zeichnen.
Neben der erkennbaren Bündelung und Weiterentwicklung eigener Forschungsarbeiten zu(r) Papstgeschichte(n) der vergangenen 150 Jahre und der herausragenden Sachkenntnis und Rezeption der Fachliteratur zum Thema arbeitet Ernesti vor allem mit offiziellen Verlautbarungen und edierten Quellenbeständen zur vatikanischen (Außen-)Politik. Freilich muss angeführt werden, dass das Buch unter den forschungspraktisch außergewöhnlich schwierigen Zeiten der Covid-19-Pandemie entstand, die eine extreme Einschränkung von Archivrecherchen mit sich brachte. Eine Erwähnung, die - wenn, dem Anliegen des Buches folgend, überhaupt nötig - lediglich für die Darstellung des Pontifikats Pius XII. relevant ist.
Das abschließende Kapitel, in dem Ernesti eine gut nachvollziehbare Synthese seiner Ergebnisse vornimmt, ist in seiner theoriebildenden und prägnanten Art eine geradezu ideale Abrundung des Buches, das - was nicht unerwähnt bleiben soll - über einen umfangreichen und auflockernden Abbildungsteil verfügt.
Alles in allem bietet Ernestis Buch grundlegende Einblicke in die diplomatischen Bemühungen des Vatikans nach 1870. Es bietet auch eine eindrucksvolle zusammenfassende Analyse des außenpolitischen Agierens des Heiligen Stuhls. Dem Autor gelingt es, eine seinem Anliegen entsprechende breite, aber zugleich tiefgreifendere Perspektive auf die Herausforderungen zu präsentieren, mit denen der Heilige Stuhl im Laufe der Zeit konfrontiert war. Dieses Buch wird zweifellos Eingang in weitere Forschungen zum Thema finden.
Jörg Ernesti: Friedensmacht. Die vatikanische Außenpolitik seit 1870, Freiburg: Herder 2022, 367 S., 52 s/w-Abb., ISBN 978-3-451-39199-6, EUR 34,00
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