sehepunkte 23 (2023), Nr. 9

Michael Homberg: Digitale Unabhängigkeit

"Kinder statt Inder!" Mit diesem populistischen Slogan attackierte Jürgen Rüttgers im Jahr 2000, damals CDU-Spitzenkandidat bei der nordrhein-westfälischen Landtagswahl, die Pläne der SPD-geführten Bundesregierung, zur Behebung des schon damals akuten Mangels an IT-Fachkräften indische Computerexperten anzuwerben. Diese Episode ist ein Hinweis auf die Verbindung von Indien und Computerexpertise, zeigt aber auch, dass die indische IT-Kompetenz eng mit der Geschichte von Migration und Wissenstransfer verwoben ist. In der hier zu rezensierenden Monografie, die auf einer 2022 von der Universität Potsdam angenommenen Habilitationsschrift basiert, widmet sich Michael Homberg dieser Thematik und nimmt Indien und seinen Weg in das Computerzeitalter in den Fokus.

Mit dieser innovativen Themenwahl positioniert sich die Studie am Schnittpunkt mehrerer aktueller Forschungsrichtungen. Dies wäre zum einen die Historisierung der Computerisierung. Hier eröffnet der geschärfte Blick auf einen, in den Quellen oft als "Entwicklungsland" bezeichneten Staat neue Erkenntnisse zum Ablauf, zur Wahrnehmung und zu den Auswirkungen der Computerisierung abseits ihrer Zentren in den USA und Westeuropa. Zum anderen gelingt es Homberg, die Digitalgeschichte mit internationaler und postkolonialer Geschichte zu verbinden, denn Indiens Weg ins Computerzeitalter war auf vielfältige Weise vom Wandel der internationalen Beziehungen seit 1945 geprägt.

In sechs inhaltlichen Kapiteln geht Homberg weitgehend chronologisch vor. Das erste Kapitel behandelt "Indiens Quellcode", worunter der Autor primär den Diskurs um die Bedeutung von Wissen und Technologie für den jungen indischen Staat versteht. Die Planungseuphorie der 1950er Jahre führte dazu, dass die indische Statistikbehörde im Jahr 1955 einen ersten elektronischen Digitalcomputer aus Großbritannien anschaffte. Wie stark Indien seine Rolle als neutraler Staat im Kalten Krieg nutzen konnte, sieht man daran, dass dasselbe Institut nur drei Jahre später auch einen sowjetischen Rechner erwerben konnte. Neben dem ISI entwickelte sich auch das privatwirtschaftliche Tata Institute of Fundamental Research in Bombay (heute Mumbai) zu einem frühen Zentrum der indischen Computerlandschaft und entwickelte 1960 sogar einen eigenen Computer. Die Verknüpfung von Computerisierung und Entwicklungspolitik führte 1963 schließlich dazu, dass das Institut mit Mitteln des amerikanischen Entwicklungshilfeprogramms USAID einen amerikanischen Hochleistungsrechner erwarb. Nachdem Mitte der 1960er Jahre allerdings der Kaschmir-Konflikt erneut aufflammte und Indien sein nukleares Rüstungsprogramm ausbaute, verboten die USA den Export von Elektronik und Computern nach Indien. Als Reaktion hierauf verstärkte die indische Regierung die Regulierung der Elektroindustrie, mit dem Ziel, in diesem Sektor von ausländischen Importen unabhängiger zu werden.

Im folgenden Kapitel verhandelt Homberg die ambivalente Rolle verschiedener Entwicklungshilfeprogramme. So sorgten die UN dafür, dass ab den 1950er Jahren im Rahmen der "Technischen Hilfe" ausländische Computerexperten nach Indien kamen. Die UNESCO wollte dagegen die Länder der "Dritten Welt" mit dem Aufbau eines internationalen Rechenzentrums unterstützen, das eigentlich in Indien oder China errichtet werden sollte, schließlich aber ohne indische Beteiligung in Rom aufgebaut wurde. In den 1960er Jahren begann dann ein langsamer Wandel des Entwicklungshilfediskurses. Anstelle von technischer Hilfe bei Großprojekten rückten nun vor allem die Sicherung von Grundbedürfnissen sowie die elementare Bildung der Bevölkerung ins Zentrum.

Kapitel vier thematisiert den Aufbau technischer Hochschulen. Nach dem Vorbild des Massachusetts Institute of Technology sollten die Indian Institutes of Technology (IIT) die Ausbildung von Ingenieuren abdecken, die zur Industrialisierung Indiens benötigt wurden. Laut Homberg hatten die IIT eine zentrale Rolle bei der Computerisierung inne. So etablierte sich das IIT Kharagpur bereits in den 1950er Jahren als ein Zentrum des indischen Computerwissens. Dabei profitierten die IIT von der Unterstützung internationaler Partnerländer. So förderte die UdSSR das IIT in Bombay und finanzierte der Hochschule unter anderem einen Computer. Der praktische Nutzen dieses sowjetischen Gerätes war jedoch aufgrund fehlender Übersetzungen gering. Die Bundesrepublik engagierte sich dagegen am IIT in Madras (heute Chennai), allerdings fiel das bundesdeutsche Engagement bei der Computerisierung ihres Instituts schwach aus. Es wirft ein Schlaglicht auf den Zustand der bundesdeutschen Computerindustrie, dass eine Kommission 1970 für einen IBM-Rechner votierte, da man den deutschen Herstellern die Wartung eines Computers in Indien nicht zutraute.

Kapitel 5 befasst sich mit den Widerständen und den Forderungen nach Autonomie, die die Ausbreitung von Computern in Indien hervorrief. Angesichts zahlreicher existenzieller Probleme Indiens, etwa der Nahrungsmittelknappheit, stand der indische Computerisierungskurs in ständiger Kritik. Wie auch in anderen Ländern galten Computer in Indien zunächst als Jobkiller. Doch ab Ende der 1960er Jahre wandelte sich die Einstellung hinsichtlich der neuen Technologie. Während die Skepsis gegenüber technologischen Großprojekten wie Staudämmen oder Raumfahrt wuchs, wurde der Begriff der angepassten Technologien populär und beeinflusste die internationale Entwicklungspolitik. Hinter diesem Konzept stand die Idee, "dass Entwicklungsländer Technologien nutzen sollten, die ihren sozialen und ökonomischen Voraussetzungen angemessen waren" (285). Die Auswirkungen dieser Ideen auf die Computerisierung waren aber gering. Das Verlangen nach mehr Autonomie führte in den 1970er Jahren zu einer wachsenden Kritik an ausländischen Computerherstellern. Die indische Regierung ging mit ihrer Politik gegen multinationale Konzerne sogar so weit, dass sich IBM und andere Konzerne 1978 gezwungen sah, sich aus dem Land zurückzuziehen.

Die 1980er Jahre beschreibt Homberg im sechsten Kapitel als den endgültigen Aufbruch ins Computerzeitalter, der mit einer wirtschaftlichen und regulatorischen Liberalisierung einherging, in dessen Folge sogar IBM nach Indien zurückkehrte. In diesem Zeitraum zeigte sich, dass die Stärke Indiens in der zunehmend globalisierten Computerindustrie weniger in der Hardwareproduktion lag, sondern in dem Vorhandensein von günstiger Manpower. Zwar litt auch Indien an einem Brain-Drain, durch den indische Computerspezialisten in die USA und nach Europa migrierten. Dennoch führte die wachsende Zahl an Programmierern dazu, dass das Land zu einer führenden Nation auf dem expandierenden Markt der IT-Services wurde, worunter vorrangig personalintensive Programmierarbeiten fielen. Infolgedessen beherrschten indische Unternehmen in diesem Bereich um die Jahrtausendwende knapp zwei Drittel des globalen Marktes.

Die Globalisierung der indischen IT-Arbeitswelten gegen Ende des Jahrtausends ist schließlich der Inhalt des letzten inhaltlichen Kapitels. In zwei Fallstudien zur Migration in die USA und die Bundesrepublik untersucht Homberg die Erfahrungen von indischen IT-Experten. Vor allem in den USA zeigte sich, dass Inder im Silicon Valley zwar besser integriert und erfolgreicher waren als andere Migrantengruppen, aber im Verlauf ihrer Karriere oftmals an gläserne Decken stießen. Ab der Jahrtausendwende bemühte sich die indische Regierung teilweise erfolgreich um die Rückkehr jener erfolgreichen Expats.

Insgesamt lässt sich Indiens Weg in das Computerzeitalter nur schwer zu einer stringenten Erzählung verdichten. Zu vielfältig und ungleichartig waren die inneren und äußeren Bezüge - den indischen Weg gab es nicht. Umso lobenswerter ist es daher, dass Homberg Schneisen in die "verschlungenen Entwicklungspfade" (475) der indischen Digitalgeschichte geschlagen und sie damit für weitere Forschungen zugänglich gemacht hat. Allerdings verliert er dabei stellenweise die Rolle von Computern beziehungsweise die Computerisierung Indiens aus dem Blick. Seine Ausführungen zur Entwicklung der internationalen Entwicklungspolitik oder zum "elektronischen Kolonialismus" sind zweifelsohne interessant (269). Referenzrahmen dieser Debatte in den 1970er Jahren waren allerdings weniger Computer oder ihre (abzusehende) Vernetzung, sondern vielmehr die klassischen Nachrichtenströme von Zeitungen, Radio oder Fernsehen im Satellitenzeitalter.

Der Reiz des Buches liegt zu einem großen Teil darin, dass selbst Kenner der Digitalgeschichte beim indischen Beispiel immer wieder mit der Andersartigkeit der indischen Entwicklung konfrontiert werden. Damit erzeugt das Buch auch neue Perspektiven auf die europäische Computerisierung. So ist auffällig, wie sehr sich die in den 1960er Jahren aufkommende Furcht, bei Computern von den USA abhängig zu sein, in Europa und Indien ähnelte und die staatliche Industriepolitik beeinflusste. Allerdings gelang es Indien mit dem Fokus IT-Services langfristig eine erfolgreiche Nische auf den globalen IT-Märkten zu finden, während Europa hier weniger erfolgreich war. Die Lektüre wirft daher die gewinnbringende Frage auf, wo heute eigentlich die Peripherie der globalen Computerisierung zu verorten ist. Die von Homberg angestrebte "Dezentrierung" der Computergeschichte zeigt insofern Wirkung.

Rezension über:

Michael Homberg: Digitale Unabhängigkeit. Indiens Weg ins Computerzeitalter - Eine internationale Geschichte (= Geschichte der Gegenwart; Bd. 32), Göttingen: Wallstein 2022, 581 S., 23 Abb., 5 Tbl., ISBN 978-3-8353-5267-4, EUR 48,00

Rezension von:
Matthias Röhr
Universität Siegen
Empfohlene Zitierweise:
Matthias Röhr: Rezension von: Michael Homberg: Digitale Unabhängigkeit. Indiens Weg ins Computerzeitalter - Eine internationale Geschichte, Göttingen: Wallstein 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 9 [15.09.2023], URL: https://www.sehepunkte.de/2023/09/37986.html


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