Die Auffassung, dass das mittelalterliche England keineswegs als monolithisches Königreich anzusehen ist, hat sich in der Forschung seit langem durchgesetzt. Vielmehr waren gerade Stadtherrschaften oft in der Hand von Adel oder Klöstern. Die frühere Forschung ging besonders für die geistlichen Stadtherren vielfach von dauerhaft konfliktiven Situationen aus, in denen das Stadtvolk als Ganzes gegen die mit harter Hand durchgreifenden Klöster aufbegehrte und revoltierte, woraus vielfach Gewalt entstand (vgl. 1-3). Erst in jüngerer Zeit wurde diese Interpretation mittelalterlicher Herrschaft in Frage gestellt. Am Beispiel der südenglischen Stadt Reading (Berkshire) stellt der Autor heraus, dass klösterliche Stadtherrschaft (monastic lordship) keineswegs durchgehend von Konflikten gekennzeichnet war.
Als notwendige Begriffsklärung weist der Autor schon zu Beginn darauf hin, dass der Terminus "monastic town" - und über diese handelt ja die bisherige Konfliktgeschichtsschreibung - in der Historiographie bislang nicht hinreichend scharf definiert war. Der Autor arbeitet hier mit einer zutreffend gewählten engen Definition, mit der er ein "monastic town" durch "lordship" des Klosters definiert (3-9 mit Liste).
Das von der cluniazensischen Reform geprägte Benediktinerkloster übte die Herrschaft über die Stadt Reading aus. Nach Bury St Edmunds (Suffolk) und St Albans (Hertfordshire) war Reading mit mehr als 3000 Einwohnern um 1500 die drittgrößte 'Klosterstadt' Englands. Durch die Lage an der Themse gehörten Tuchproduktion und -verarbeitung zu den hauptsächlichen Einkunftsquellen mit lukrativen Handelsbeziehungen nach London. Die Zünfte gewannen im Laufe der Zeit immer mehr an Einfluss.
Nach einer systematischen Auswertung von Quellen aus der Abtei, den Zünften, den Pfarreien sowie Testamenten stellt der Autor die These auf, dass es im Verhältnis zwischen Stadtgesellschaft und Abtei zwar immer wieder Reibereien gab, dass man deshalb aber nicht von einer andauernden Konfliktlage sprechen könne, dass es wegen der geistlichen Herrschaft nicht zu großflächigen und gewalttätigen Konflikten gekommen sei und die Spitze der Stadtgesellschaft keineswegs einen Umsturz geplant habe ("Towns such as Reading did not necessarily have harmonious relations, but they developed mechanisms to manage conflicts", Seite 3). Gleichwohl besaßen die Zunftherren das Know-how, um die Stadt nach der Auflösung der Klöster im Zeitalter Heinrichs VIII. zügig selbst verwalten zu können. Jedenfalls müsse der alte Grundsatz 'Klosterherrschaft = Konflikt' stark in Zweifel gezogen werden.
Insbesondere stellt der Autor die Bedeutung von sozialen Netzwerken heraus. Anhand der untersuchten Quellen zeigt er (keineswegs überraschend) auf, wie politische, ökonomische und religiöse Sphären in der Stadt sich gegenseitig durchdrangen und bedingten. Die Führungsriege der Stadt war zwar von einem gewissen Oligarchismus geprägt, aber weit durchlässiger für sozialen Aufstieg als zumeist angenommen. Das gilt insbesondere für die Kaufmannsgilden.
Das tradierte Bild der mittelalterlichen monastic towns als Zwei-Parteien-Gesellschaft - Klostergemeinschaft einerseits, Stadtgesellschaft andererseits - implizierte im methodischen Zugang früherer Studien vielfach, es gebe 'die' einheitliche Stadtbevölkerung und damit eine klare Frontlinie. Das Kloster sei dabei jene Partei gewesen, die sich durch besonders repressive Maßnahmen auszeichnete und dadurch Spiralen der Gewalt in Gang setzte. Der Autor setzt gegen die Begriffe "oppressive" bzw. "repressive" den Terminus "robust" und nimmt dem Kloster-Stadt-Verhältnis dadurch die aggressive Konnotation. Zwar könne man nicht von einem harmonischen Verhältnis sprechen, denn Herrschaft wurde durchaus machtbewusst eingesetzt und inszeniert; doch "[a]bbeys did not seek to oppress" (180). Aus der Analyse sozialer Netzwerke wird gleichwohl deutlich, dass sich die Stadtgesellschaft selbst trotz beruflicher und sozialer Differenzierungen doch als Einheit verstand, gerade in der Wehr gegen allzu robuste Machtbestrebungen seitens der Abtei. Eine stärkere gesellschaftliche Binnendifferenzierung erfuhr Reading erst nach der Auflösung des Klosters durch Heinrich VIII., als sich sehr zügig die Kaufmannsgilden als neue politische Führung herauskristallisierten: Der gemeinsame Gegner fehlte nunmehr, es folgte eine Neuordnung und Umverteilung der Machtverhältnisse. Insofern liefert die Arbeit einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der spätmittelalterlichen Stadt.
Entgegen den üblichen Tendenzen der anglophonen Literatur zur Sparsamkeit bei Anmerkungen und Registern ist Chicks Buch erfreulich nutzerfreundlich gestaltet und bietet in zahlreichen Fußnoten viele weitere Literaturhinweise.
Die Studie bietet durch ihren mikrohistorischen Zugang und unter Anwendung der Analyse sozialer Netzwerke nicht nur teilweise ein Abrücken von klassischer Herrschaftsgeschichte, sondern stellt durch genaues Hinschauen insbesondere die frühere These der dauerhaften Konfliktivität klösterlicher Stadtherrschaften in England zurecht mehr als deutlich in Frage. Schon aus diesem Grund ist das Buch wertvoll. Freilich ist dem mikrohistorischen Ansatz inhärent, die These künftig anhand anderer 'monastic towns' prüfen zu müssen - wie der Autor selbst empfiehlt (und Bury St Edmunds und St Albans gleich als konfliktlastige Ausnahmen definiert). Doch ein mögliches Vorbild für die zukünftige Vorgehens- und Frageweise liegt nun mit Chicks Arbeit vor.
Joe Chick: Urban Society and Monastic Lordship in Reading, 1350-1600, Woodbridge: Boydell Press 2022, XIII + 217 S., 5 s/w-Abb., ISBN 978-1-78327-756-8, GBP 70,00
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