Die günstige Entwicklung der Überseeverflechtungen Bremens, die seit dem späten 18. Jahrhundert vor allem in Folge der Unabhängigkeit der USA einen langanhaltenden Aufschwung nahmen, gehörte traditionell zum Kernbestandteil der Geschichtsschreibung und darüber hinaus auch zur historischen Identitätsbestimmung der Stadt. Im wirtschaftlichen Erfolg durch (vor allem seit 1840) immer kühner werdende Fernhandelsunternehmungen fand eine positiv konnotierte historische Eigenbetrachtung, wie sie zumindest bis in die 1970er Jahre dominierte, reichlich Anschauungsmaterial. Im Rahmen dieser 'Erfolgsgeschichte' stellte das Narrativ einer moralischen Lauterkeit der Bremer in ihrer Überseeexpansion eine kaum hinterfragte Grundannahme dar. Zwar wurde sie in der einschlägigen Fachliteratur selten explizit herausgestrichen, liegt aber zumindest subkutan manch einschlägiger Darstellung zugrunde. So ist im Werk von Karl Schwebel, Bremer Kaufleute in den Freihäfen der Karibik: Von den Anfängen des Bremer Überseehandels bis 1815 (Bremen 1995) die weitgehende Abwesenheit von Diskussionen um Sklavenhandel und Sklaverei doch bemerkenswert.
Die vorliegende Arbeit Jasper Hagedorns entstand im Kontext des ERC-Projekts "German Slavery", welches von 2015-2022 an der Universität Bremen angesiedelt war. Aus dem Projekt ist unterdessen eine Reihe von Forschungsbeiträgen hervorgegangen, die just solche Leerstellen der gängigen Geschichtsbetrachtungen füllen und damit insgesamt die Wahrnehmung der deutschen Verflechtungen mit der atlantischen Plantagenwirtschaft grundlegend verändern. Hagedorns Arbeit füllt im Falle Bremens eine besonders markante Forschungslücke. Ziel seiner Darstellung ist es, die Verwicklungen Bremens in Sklavenhandel und vor allem die atlantische Plantagenwirtschaft von 1780 bis 1860 herauszuarbeiten. Eine umfangreiche Kontextualisierung bietet dabei auch viele grundlegende Erkenntnisse zu Aspekten der Bremer Politik-, Migrations-, Wirtschafts- und Handelsgeschichte, der lokalen Pressegeschichte sowie der entsprechenden städtischen Öffentlichkeit.
Der Untersuchungszeitraum ist gekennzeichnet durch die zunehmende Kritik an Sklavenhandel und Sklaverei sowie deren Abschaffung, aber auch deren zähe Verteidigung und teilweisen Intensivierung im Zuge des Sklavenschmuggels, dem sogenannten "Hidden Atlantic" (Michael Zeuske). Bremen selbst eröffnete sich innerhalb des Untersuchungszeitraums neue Möglichkeiten vor allem im Gefolge der Unabhängigkeit der USA, aber auch als Resultat der legislativen Erleichterungen von Ansiedelungen im karibischen Raum.
Im Kern basiert die Arbeit auf Beständen der Handelskammer und vor allem des Staatsarchivs Bremen. Hier ist die Sammlung der MAUS "Gesellschaft für Familienforschung" ebenfalls von einiger Bedeutung. Wichtige Bestände fand Hagedorn auch in Hamburg und Lübeck vor. Von einiger Relevanz sind die 1917 nach Kopenhagen überführten Archivalien der dänischen Karibikinseln. Auch weitere Archive, so in London, Middelburg oder Marburg wurden genutzt. Der Arbeit liegt - der Eindruck stellt sich bereits nach rascher Lektüre ein - eine überaus tiefe und gründliche archivalische Recherche zugrunde.
Angesichts der Tatsache, dass Bremen seit dem späten 18. Jahrhundert einen bedeutenden Überseehandel entwickelte, war zu erwarten, dass diese Arbeit einige Formen und Aspekte der Verflechtungen Bremens mit der Sklavereiwirtschaft des Atlantik aufzeigen würde. Das Ausmaß, in dem dies gelingt, darf als außergewöhnlich bezeichnet werden. Der Stoff ist dabei in drei wesentliche Großkapitel gegliedert. Nach der Einleitung mit Themenspezifikation und Leitfragen widmet sich das Kapitel zwei dem "Bremer Exporthandel nach Plantagenregionen". Hierfür hat Hagedorn eingehend die Einträge in den Schlachtebüchern (die die Warenbewegungen erfassten), Senatsprotokolle und weitere handelsgeschichtliche Quellen ausgewertet. Man erfährt hier einiges über den Verkauf von Metall- und Textilerzeugnissen, und betont wird auch die Bedeutung von Leinwand oder Plantagengeräten, die für die Sklavenwirtschaft als Bekleidung der Sklaven oder ihr Instrumentarium zur Bewirtschaftung der Felder von besonderer Bedeutung waren. Die vier Anhänge der Arbeit bieten aggregierte Tabellen dieser Auswertungen. Etwas vermisst man mehr Tabellen oder überhaupt Diagramme, die die Erschließung dieses handelshistorischen Teils in einer relativ stark textgebundenen Darstellung erleichtern könnte.
Kapitel drei fokussiert auf "Diplomatische, personelle und geschäftliche Verbindungen zwischen Bremen und Plantagenregionen". Herausgearbeitet werden die Tätigkeiten von Bremer Kaufleuten, Pflanzern und Konsuln im System des transatlantischen Kolonialhandels. Hier werden bedeutende Tiefenerkenntnisse gewonnen, etwa wenn einzelne Bremer als wichtige Akteure nachgewiesen werden. Klar wird, dass die Welt der Plantagen mit Sklaven für Bremer einen selbstverständlichen Teil ihrer geschäftlichen Tätigkeiten darstellen konnten, so als leitende Angestellte oder Besitzer. Auch kann Hagedorn Strategien der Verschleierung von Sklavereiverwicklungen durch Bremer Akteure aufzeigen. Die Tätigkeit der Bremer Konsuln erscheint komplementär dazu als eher komplizenartig, um den Bremer Handel und dessen Verbindungen mit der Plantagenwirtschaft zu schützen - und in der Tendenz sieht man bei diesen eher ein Wohlwollen bezüglich der Sklaverei. Ein Exkurskapitel zu afrikanischstämmigen, dunkelhäutigen Menschen in Bremen seit dem frühen 19. Jahrhundert (es können sogar Indizien für das 17. Jahrhundert vorgelegt werden) erschließt Neuland für die deutsche Migrationsgeschichte.
Kapitel vier widmet sich der "Sklavereidebatte in Bremen". Dabei werden die Gerichtsprozesse zwischen Großbritannien und Bremen (am Rande auch der weiteren Hansestädte), die sich anhand der Konfiszierung des Bremer Schiffes Julius & Eduard durch das britische Westafrikaschwadron in den frühen 1840er Jahren entzündeten und vor allem ihr publizistisches Echo eingehend beleuchtet. Hagedorn gelingt die Herausstellung einer parteilichen Bremer Justiz, die sich wenig scheute, einen Konfrontationskurs gegen Großbritannien zu wagen. In dieser Plastizität und Detailgenauigkeit wurde dieser Prozesskomplex noch nicht beleuchtet und Hagedorn kann dazu auch noch Akten des Oberappellationsgericht der vier Freien Städte in Lübeck und weitere beisteuern, die bislang unbekannt waren. Dabei zeigt sich eine Doppelmoral der Bremer Seite, die sich besonders unvorteilhaft gegenüber dem Oberappellationsgericht ausmacht und auch gegenüber vergleichbaren Konfiskationen von Hamburger Schiffen. Auch zeigt sich eine Doppelbödigkeit der Bremer politischen Linie bei der Behandlung eines entlaufenen Sklaven in Bremen und eines hier angelandeten Schiffs aus Brasilien, welches vormals im Sklavenhandel tätig war. Dabei korrigiert Hagedorn auch eine meiner Aussagen aus einem Aufsatz von 2016, in dem ich schrieb, dass es in Deutschland "niemals eine obrigkeitlich induzierte oder wenigstens gestützte Verteidigung des Sklavenhandels oder des Systems der Sklaverei" gegeben habe. Hagedorn kann das im Falle Bremens an einem Beispiel plausibel widerlegen. Die Auswertung und Analyse der Bremer Pressemeinungen zum Themenkomplex der Abolition und dem Sklavenhandel über die Jahrzehnte des Untersuchungszeitraums zeigt auch eine eher wenig moralisch kohärente Bremer Linie; eine oberflächliche Bejahung von Abolition, die immer dann rasch relativiert wird, wenn sie tatsächlich zu Kosten für Bremen führen könnte.
Im etwas knapp geratenen Fazit bündelt Hagedorn die Herausarbeitung Bremens als intensiv im transatlantischen Kolonialsystem verflochtene Stadt. Stark bei Hagedorn angedeutet ist eine Überproportionalität der Bremer Verwicklungen angesichts des 'zu Erwartenden' bei einer bedeutenden Hafenstadt Deutschlands mit einem relativ gewerbestarken Hinterland und Zugang zum Atlantik. Es ergibt sich hieraus implizit die Frage, woher dieses Überengagement kam. Die Antwort könnte auf Max Weber und seine Betonung des Calvinismus rückverweisen, auch da jüngst das besondere Engagement von reformiert-protestantischen Schweizern und Hugenotten im Sklavereisystem des Atlantik stärker herausgearbeitet wurde oder auch das zähe Festhalten der calvinistisch dominierten nördlichen Niederlande an Sklavenhandel und Sklaverei um 1800 eine stärkere Beachtung findet. Der Eindruck einer besonderen Latenz von reformiert geprägten Gruppen zu Sklavenhandel und Plantagenwirtschaft erhält durch das Bremer Beispiel eine weitere, eher bestätigende Nuance hinzugefügt.
Dies sind aber Aspekte, die Hagedorn nicht mehr aufgeworfen hat. Seine Arbeit zielt nicht auf größere Thesen, sondern eine detaillierte Analyse der bislang in weiten Teilen unbekannten Fakten sowie deren Interpretation. Das gelingt ihm in überzeugender Weise. Die Arbeit betritt in weiten Bereichen Neuland und hebt unser Wissen zu den kolonialen Verflechtungen Bremens und damit Deutschlands auf ein neues Niveau. Karl Schwebels bisheriges Standardwerk ist damit faktisch abgelöst und ein neues Referenzwerk liegt vor. Hagedorn selbst kann überzeugend konstatieren: "Auch wenn Bremen kein Kolonialstaat mit einem eigenen Sklavenhandelsgewerbe war, waren Stadt und Kaufleute tief in das atlantische Sklavereisystem verflochten" (359).
Jasper Henning Hagedorn: Bremen und die atlantische Sklaverei. Waren, Wissen und Personen, 1780-1860, Baden-Baden: NOMOS 2023, 540 S., ISBN 978-3-7560-0678-6, EUR 114,00
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