sehepunkte 24 (2024), Nr. 1

Sophie von La Roche: Mein Schreibetisch

Bodo Plachta benennt die Gründe, die eine neue Edition von Sophie von La Roches (1730-1807) Mein Schreibetisch von 1799 rechtfertigen, ebenso nüchtern wie pointiert: "Mein Schreibetisch ist eine außerordentliche kulturhistorische Quelle, die nicht nur die Lektüre Sophie von La Roches erschließt, sondern auch vielfältige Beziehungen zwischen Autorinnen der Zeit erkennen lässt und Auskunft über die Rezeption ihrer Texte gibt. Das Werk ist gleichsam ein Kompendium, das unentbehrlich für die Erforschung der Literatur von Frauen im 18. Jahrhundert ist." (319)

Sein Nachwort erschließt den auch heute sperrigen Text seinerseits: Plachta rekapituliert zuerst das Aussehen und die Eigenschaften des Tisches, dessen Beschreibung La Roche zum Ausgangspunkt, Stichwortgeber und Leitmotiv macht: "Die Einfachheit eines Schreibmöbels ist Garant für konzentrierte schriftstellerische Arbeit. [...] Sophie von La Roche erweiterte [durch einen "Aufsatz", H.M.] ihren Tisch zu einer Art Kabinettschrank [...] Dieser Typus eines Schreibmöbels zeichnet sich dadurch aus, dass er neben einer großzügigen Arbeitsfläche durch einen Aufbau mit Fächern und Schubladen viel Platz zum Ablegen und Verstauen bot." (310f.) Die materielle Grundlage für die Arbeit der Schriftstellerin steht vor Augen und damit alles, was sie hier vornimmt, vom Schreiben und Übersetzen, vom Sprachenlernen und Beantworten von Briefen über das Sammeln von Notizen, Exzerpten und Entwürfen bis zum Nachschlagen, Lesen und Verwahren von Büchern, namentlich "meinen Lieblingsbüchern" (61), zusätzlich betont durch das Bekenntnis: "Ich liebe alles, was aus der Feder einer Person meines Geschlechts abstammt, und liebte immer vorzüglich die Briefe der Madame de Sévigné, als Model erzählender gefühl- und anmuthsvoller Briefe [...]" (46, Hervorhebung im Original). Hinzu kommt die historische und mnemotechnische Bedeutung des Möbelstücks: Der Schreibtisch begleitete die Schriftstellerin auf allen Stationen ihres Lebens, "von Warthausen über Mainz, Koblenz und Speyer bis nach Offenbach." (311). Oft lehnten Freunde daran, etwa Christoph Martin Wieland (1733-1813). Die hier archivierten Gegenstände setzen Erinnerungen an Lese- und Reiseerlebnisse der eigenen Biographie frei, aber auch "Wünsche" nach Büchern (76, 80f.) und Orten wie Rom und Neapel, die sich die Autorin indes 'verweist' (194).

Plachta lässt keinen Zweifel daran, dass La Roches Unternehmen, die genaue "Inspektion" (323) ihres Arbeitsplatzes und deren Umsetzung in einen literarischen Text, schon zu ihrer Zeit "unkonventionell" (318) war. Das eigenwillige "Mischmasch" (82) - die Autorin spricht auch von "Sammlung" (32) - aus Beschreibung und Erläuterung, Erinnerung und Belehrung, Zitat und Abschweifung, Exzerpt und Abschrift rief die zeitgenössische Kritik wie die Forschung bis heute auf den Plan; das Unternehmen entsprang nicht zuletzt finanziellen Zwängen.

Als Mein Schreibetisch. An Herrn G. R. P. in D. 1799 bei Heinrich Gräff in Leipzig herauskommt, erscheinen die zwei "Bändchen" unter dem Namen der Verfasserin: Sophie von La Roche ist eine feste Größe im literarischen Betrieb des ausgehenden Jahrhunderts. Die Autorin und Berufsschriftstellerin hatte sich diese Position im Anschluss an ihren Erfolgsroman Geschichte des Fräuleins von Sternheim, den Wieland 1771 als Herausgeber lanciert hatte, "mit der Regelmäßigkeit einer Maschine" und "eiserner Disziplin" [1] buchstäblich 'erschrieben'. Jetzt, in ihren letzten Lebensjahren, erscheinen zwar die meisten ihrer Werke, aber La Roche sieht sich in einer doppelten Zwickmühle: Sie muss nach dem Tod ihres Ehemannes 1788 und dem Verlust von Witwenrente und den Einkünften aus der Zollschreiberei in Boppard im Gefolge des ersten Koalitionskrieges 1794 schreiben, um ihren Unterhalt und den ihrer drei Enkelinnen Brentano zu sichern; gleichzeitig geraten ihre Werke im Zuge der Dynamik des literarischen Systems zunehmend an den Rand, nicht zuletzt weil sie an einer Empfindsamkeit festhalten, die überwunden scheint.

Ob die außergewöhnliche Form und die heterogenen Inhalte - u.a. skandieren Bücherlisten den Text, auch als integraler Bestandteil der ausführlichen Wiedergabe und Kommentierung des Briefwechsels mit der Schweizer Freundin und Salonnière Julie Bondeli (1732-1778) - darauf zielen, sich aus dieser Zwickmühle zu befreien, ist angesichts der dürftigen Quellenlage, auf die Plachta zu Recht hinweist (315), nicht zu entscheiden. Festzuhalten ist, dass La Roche ihr Unternehmen an Johann Friedrich Christian Petersen (1753-1827), Erzieher des Erbprinzen von Hessen-Darmstadt und Freund, adressiert; sie ruft die damit geschaffene intime Kommunikationssituation immer wieder auf, auch als Legitimation ihres Textes. Im Unterschied zu den anderen Werken dieser Jahre, Reiseberichten über die Schweiz (1787/1793), Frankreich (1787), Holland und England (1788), Weimar und Schönebeck (1800), dem 'Amerika-Roman' Erscheinungen am See Oneida (1798) und Werken, die ureigene Themen wie Freundschaft oder Erziehung, insbesondere die der Frauen, und moraldidaktische Darlegungen von neuem aufgreifen, bilden Druck und Typographie des jetzt vorliegenden Schreibetisches wie die aus der Vorlage mitgeführten Seitenzahlen das Offene, das topographisch-hybride Assoziieren und Abschweifen auf alle Diskurse der Zeit von neuem ab. Gleichzeitig fallen die autobiographische "Selbstlokalisierung" [2] und das Festhalten am Projekt Aufklärung zusammen. Plachta hält fest: "Obwohl sie sich in dieser Zeit erkennbar von Frankreich abwandte, dessen Kultur und civilisation sie immer bewundert hatte, und den Blick stärker auf das 'freie' England richtete, verkörperte sie wie kaum eine andere schreibende Frau des 18. Jahrhunderts das ancien régime." (324) La Roche selbst resümiert: "[...] Denken und Wissen sind mir geblieben. Das Schicksal zerstörte meinen Wohlstand, die Jahre meine Gestalt; - aber meine Seele kennt den wahren Werth aller Dinger dieser Erde, freut sich der vielen vortrefflichen Menschen, welche ich kennen lernte, und zollt ihnen Hochachtung, Liebe und Dankbarkeit. Oft drücke ich die Briefe wohlwollender Freunde mit Entzücken an mein Herz, kenne keinen Neid, keinen Haß, noch Unruhe, denke nur an das Gute, und habe keinen größeren Wunsch, als im Stande zu seyn, Leidenden zu helfen, und noch viele Bücher zu lesen." (302)


Anmerkungen:

[1] Armin Strohmeyr: Sophie von La Roche. Eine Biographie, Leipzig 2006, 261.

[2] Annegret Pelz: "Antwort auf Fragen nach meinem Zimmer". Sophie von La Roches anderer Raum, in: Sophie von La Roche et le savoir de son temps, unter der Leitung von Helga Meise, Reims 2013, 119-135, hier 121.

Rezension über:

Sophie von La Roche: Mein Schreibetisch. Mit einem Nachwort herausgegeben von Bodo Plachta (= Edition FONTE. Autorinnen zwischen Barock und Aufklärung; 4), Hannover: Wehrhahn Verlag 2022, 325 S., 3 Farbabb., ISBN 978-3-86525-941-7, EUR 25,00

Rezension von:
Helga Meise
Université de Reims Champagne-Ardenne
Empfohlene Zitierweise:
Helga Meise: Rezension von: Sophie von La Roche: Mein Schreibetisch. Mit einem Nachwort herausgegeben von Bodo Plachta, Hannover: Wehrhahn Verlag 2022, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 1 [15.01.2024], URL: https://www.sehepunkte.de/2024/01/36867.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.